Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
gesenkt.
    Hummel ging im Zimmer umher wie suchend. »Hatten Sie hier nicht früher einen schönen alten Kupferstich, der die Stadt Thurwiller darstellte, wie sie im vierzehnten Jahrhundert war? Ich hatte ihn so gern mit seiner bunten Übermalung.«
    »Der Kupferstich?« Sie erhob sich ein wenig und griff hinter sich, wo auf dem Fenstertritt eine bunt bemalte Schachtel stand, die sie empornahm und auf ihre Knie setzte. Im Bewußtsein, daß sie unter anderen Andenken auch Hummels erste Briefe enthalte, zögerte sie einen Augenblick, schloß aber dennoch auf und reichte ihm das Kupferblatt, nach dem er gefragt hatte, rahmenlos und mit ein paar gelben Flecken an der Seite. Es sei beim Brande angesengt, sagte sie. »Aberkennen Sie noch diese Handschrift?« Sie gab ihm einen mit französischen Worten eng beschriebenen Zettel, der Spuren von Zerknitterung aufwies. Er dachte nach. »Der Ratsschreiber?«
    Sie nickte. Er las.
    »Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern.
    Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.«
    Dann las er auch die Unterschrift: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«
    »Eigentlich gehört der Zettel also Ihnen,« sagte Françoise lachend, »aber ich habe ihn gestohlen, ganz einfach gestohlen und behalten.«
    Nie war sie ihm reizender erschienen als in diesem Augenblick. Sie saß wie überschwemmt von Licht mit ihrer hellen Stickerei unter der Lampe, ein Körbchen mit bunten Seidenknäueln, Scherchen und Schächtelchen um sich herum. Das erinnerte ihn plötzlich an seine Mutter, bei der er abends manchmal gesessen hatte, wenn sie nähte. Die Vergangenheiten mischten sich vor ihm, er unterschied nicht mehr recht zwischen ihnen.
    Was habe ich nun eigentlich an ihm geliebt? dachte Françoise inzwischen. War es das Kindliche und Gute in seinem Wesen? Der blaue Blick, der strahlen konnte? Seine Jugend? Seine Liebe für sie? Jedenfalls war es vorbei damit, und dafür war sie ihm besonders gut in diesem Augenblick.
    Hummel fing wieder von Martin an. Er wußte keine andere Form, in der er Françoise seinen Zustand der Ergebenheit und Anhänglichkeit klarmachen konnte.
    Wirklich begann sie denn auch zu erzählen. Er erfuhr, das Kind sei, während Paul natürlich Katholik war, protestantisch getauft wie sein Vater und seine Großmutter. »Ich wünschtees, um ihn seinem Vater ganz nahezubringen. Und dann – der Einfluß der katholischen Geistlichkeit ist sehr groß in den Familien, die zu ihrer Kirche gehören. Ihr beständiges Wühlen gegen Deutschland würde unserem Kinde mehr Zwiespalt gebracht haben, als ein Elsässer ohnehin schon zu ertragen hat.« »Sie werden ihn also keinesfalls an Frankreich geben?« »O, nichts weniger als das. Wir möchten« – Sie unterbrach sich und hob den Finger. Aus der Küche unten drang ein eintöniger Zwiegesang, aus dem die Zischlaute scharf hervorsausten. Man verstand deutlich die Worte:
    »Je suis Alsacienne,
tue es Alsacien
nous sommes Alsaciennes,
vous êtes Alsaciens –«
    Immer wiederholt.
    »Kein sehr geistreiches Lied,« sagte Françoise. »Aber es sagt das, was ich mir für Martin wünsche. Unseren ältesten Sohn haben wir an Frankreich verloren. Ich habe manchmal Angst, daß wir unseren jüngsten an Deutschland verlieren könnten.«
    »Verlieren? Meiner Meinung nach wäre es dann einfach zu Hause.«
    Sie sah ihn gütig an. »Wie wenig Sie doch eigentlich verändert sind!«
    »Und Sie nicht im geringsten.«
    Sie lachte auf. »O, o, die französisch galante Art im Elsaß scheint ein wenig abgefärbt zu haben?«
    Er wollte sich verteidigen, irgend etwas Leichtes sagen. Während er aber noch darüber nachdachte, hörte man draußen einen immer wiederholten rauhen Ruf: »Vive la France«, dazwischen Lachen von allerlei Leuten und Pantoffelschurren. Hummel fuhr auf. »Was ist das?«
    Auch Füeßli und Meckelen waren hereingekommen. »O, nichts von Bedeutung,« sagten die. »Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Geheimrat, nur Jean Groff ist es, der da draußen lärmt. Er braucht wahrscheinlich wieder eine Schlafstelle.«
    »Jean Groff?« Hummel dachte nach. »Kann das derselbe sein, der hier im Jahre Siebzig den Garten begoß? Der

Weitere Kostenlose Bücher