Die Verborgene Schrift
Gespräch, selbst hier an Françoises Tisch, eine gewisse Heftigkeit angenommen, wenn sich nicht in diesem Augenblick die Tür zum Kinderzimmer aufgetan hätte und eine kleine, weiße Gestalt hineingehumpelt wäre, schlaftrunken, wie taumelnd, geradeswegs auf Hummel zu, und ihm auf den Schoß fiel.
Alle lachten. »Mais Martin,« rief seine Mutter, »qu'est-ce qui te prend?«
Das Kind sah einen Augenblick wie erstaunt um sich, dann beschämt schlang es beide Ärmchen um Hummels Hals und versteckte sein Gesicht an seiner Brust. Hummel hielt ganz still. Die aufrechtstehenden heißen Löckchen kitzelten ihn am Munde, an der Wange. Er rührte sich nicht. Es war ihm wunderlich, den weichen, schlanken Körper auf seinen Knien zu fühlen. Er, dem seit Jahrzehnten kein Mensch mehr körperlich nahe gekommen war.
Vater Pierre war aufgestanden, faßte verliebt und mahnend den kleinen Kerl um die Taille, ihn fortzutragen. »Es ist ein Naturkind, ce marmot, man muß ihn schelten.«
Aber Martin ließ sich nicht stören. Er bog den Kopf zurück und studierte ernsthaft Hummels Züge. »Hast du einen Hund?« fragte er endlich.
»Einen Hund? Nein, mein Junge.«
»Ich will dir Boppele schenken,« entschied der Kleine. Dann ließ er sich hinaustragen.
»Boppele!« Arvède lachte bis zu Tränen. Er erklärte, Boppele sei ein Scheusal. Eine Rassensammlung vollständigster Art. Das Kind habe die Mißgestalt auf der Straße gefunden und liebte nun das Tier mit Schwärmerei.
Françoises Gesicht war ganz in Lächeln getaucht. »Ich hätte nie gedacht, daß er sich davon trennen würde.«
Jetzt ist sie nicht mehr Kirke, sondern Madonna, dachte Hummel. Nach den sonderbaren Gesetzen, in denen die Liebe der Gealterten sich bewegt, trug der zarte, schaumige Wohlgeschmack der Nachspeise, die er dabei aß, noch einen besonderen Reiz zu seinem Gefühl hinzu. Er fühlte sich liebend und liebte sich um dieses Liebens willen, das er sich längst nicht mehr zugetraut hätte, freute sich, daß diese Liebe ohne Qual war, nur ein ungeheures Wohlerbitten für Françoise und die Ihren. So löffelte er denn seine Zitronenspeise zwischen den Geweihen eines gemalten Hirsches heraus und wußte auf einmal wieder die Welt voll guter Dinge.
Man sprach von Martins Zukunft. Füeßli meinte, er solle Ingenieur werden. Damit komme man jetzt im Elsaß am weitesten. Françoise wünschte, ihn studieren zu lassen. Kunstgeschichte. Schon jetzt sitze er stundenlang vor einem alten Kunstatlas und versuche, die Figuren nachzuzeichnen. Arvède schlug vor, man möge ihn, wenn er die Schule hinter sich habe, als Volontär zu ihm hinausgeben, und Hummel sagte, er passe sicher zum Arzt, da er sich des leidenden Hundes so treu angenommen habe.
So wollte jeder ihn in seinem Handwerk unterbringen.
Im Fumoir gab es Kaffee, Zigarren und Liköre. Hummel betrachtete sich die in Glasschränken verwahrten Bücher: alte französische Klassiker, einige Bände Shakespeare, Schiller und Goethe, schöne Ausgaben von Sophokles und Euripides. Er fand alte Bekannte darunter aus dem früheren Bibliothekzimmer, daneben ein Schränkchen moderner Literatur: Baudelaire,Verlaine, Huysmans, Mallarmé, Heine, Stefan George und einen Band Gottfried Keller. Hummel nahm ihn ahnungslos in die Hand. Eine Seite schlug sich auf: »In einem Gärtlein, wo du weißt.« Eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht. Er erinnerte sich. Hastig stellte er das Buch zurück. »Ah, da sind auch französische Schulbücher,« sagte er dann scheinbar interessiert und bückte sich zum unteren Fach des Schrankes.
»Ja, die sind noch von Paul, unserm Ältesten.«
Die Unterhaltung wandte sich auf Paul. Françoise beklagte mit Heftigkeit, daß man immer noch seine französischen Söhne nur in Frankreich sehen dürfe. Von Jahr zu Jahr erwarte man vergebens die Aufhebung dieses Ausnahmegesetzes. Sie erzählte, daß Paul verheiratet sei und zwei nette Kinder habe. Seine Frau war eine geborene Baronin Flèche, »eine Stieftochter der kleinen Berthe de la Quine«, erklärte sie, die Hummel damals hier vor dem Laden des Bäcker-Nazi getroffen habe. Es war das erstemal, daß sie ihn geradezu an die Vergangenheit erinnerte, und sie lächelten sich beide an wie einverständlich.
Pierre und Arvède hatten sich zurückgezogen in das Zimmer des Hausherrn. Sie wollten einige Kreisgeschäfte miteinander bereden. Hummel blieb bei Françoise, die sich an ein zierliches Nähtischchen gesetzt hatte, die Augen auf eine Handarbeit
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