Die Verborgene Schrift
Stammvater des Süßen Winkels? Er war damals schon sehr bejahrt.«
»Derselbe. Er ist bereits ein Achtziger und immer noch ein großer Farceur.«
Arvède erzählte dann, der Mann habe in den ersten Jahren nach dem Kriege, wenn seine Frau ihm mitten im kalten Winter einmal wieder die eheliche Türe vor der Nase zuschloß, das Mittel gefunden, sich Nachtquartier zu schaffen. Er tat sich eine blau-weiß-rote Kravatte um, ging vor die Häuser der Behörden und schrie: »Vive la France«. Dann sperrte man ihn ein, und er war zufrieden. »Zu seinem Unglück läßt man seit vielen Jahren die Leute schreien, was sie mögen. Trotzdem versucht er es immer wieder. Es ist seine Art zu betteln.«
»Und sein Häuschen? Ich habe das Schild noch eben gelesen.«
»Das Häuschen gehört seiner Enkelin, bei der er in Pflege ist. Aber« – Arvède senkte aus Respekt vor Madame Füeßli die Stimme – »sie hat an den zugezogenen Deutschen Schlafgäste, die ihr lieber sind als ihr alter Papa. Er muß ihnen oft Platz machen.«
Pierre kam lachend zurück. Er habe den Alten für eine Nacht oben in der Bodenkammer unterbringen lassen.
»Also doch wieder!« Françoise drohte ihm mit dem Schlüssel, den sie aus dem Körbchen nahm, um für den Strolch Bettwäsche herauszugeben.
Als sie gegangen war, fühlte Hummel plötzlich Müdigkeit. Auch Arvède gähnte verstohlen. Die Abschiedsstunde war da.
»Werden Sie mich einmal in Straßburg besuchen?« fragte Hummel, als Einleitung zum Aufbruch, »Sie und Ihre Frau Gemahlin?«
»Gewiß, wenn Sie glauben, daß wir Madame Hummel willkommen sind? Sie verkehrt nur mit Deutschen, wie Sie mir sagten?«
»O, meine Nichte richtet sich natürlich ganz nach meinen Wünschen««
»Natürlich, aber immerhin...«
Hummel schwieg. Er fühlte, Füeßli hatte recht mit seinem Bedenken für Straßburg. In der Stadt floß Scheidewasser zwischen Elsässern und Altdeutschen, mehr als hier auf dem Lande. Dennoch wandte er sich jetzt an Françoise, die wieder eintrat. »Wir verabreden soeben Ihren Erwiderungsbesuch bei mir in Straßburg. Wann kommen Sie?«
Es hatte ihn nun doch eine plötzliche Ungeduld befallen. Ihm schien, er habe viel zu viel Zeit verloren, ehe er diese Hand fassen durfte, die sich ihm ebenso freundschaftlich entgegenstreckte, und die er unbewußt ganz vorsichtig drückte. Er begriff nicht mehr, daß er so lange an Françoise nicht einmal mehr gedacht hatte. »Wann kommen Sie?« wiederholte er dringender.
Sie zog ihre Hand zurück. »Genießen wir vorerst recht herzlich die Erinnerung an die paar Stunden heute.«
»Aber warum nicht sie wiederholen?«
Françoise lächelte frauenhaft überlegen. »Nichts wiederholt sich im Leben, nichts kehrt wieder.« Es waren ihre Worte von vorhin, die sie ihm zurückrief.
»Wir bringen Ihnen unseren Sohn nach Straßburg, wenn er aus der Schule ist,« sagte Pierre, dem der Geheimrat leid tat.
Françoise trat ganz mütterlich zu ihm. »Zeit lassen, Herr Geheimrat, Zeit lassen.« Sie sagte es ganz in dem gleichen Tonfall, in dem Pierre die Worte früher ausgesprochen hatte. Und gab Hummel damit, ohne es zu wissen, die Unmöglichkeit, das Paar getrennt zu denken.
Während Meckelen sich mit den Autolichtern beschäftigte, die er anstecken wollte, und Pierre ihm die Streichhölzer brachte, beugte Françoise sich anmutig vor und küßte den Jugendfreund auf beide Wangen, ein sachter Hauch, der ihm allen Trübsinn nahm. Einen Augenblick dachte er daran, ihre Hand zu küssen, aber er wußte sich ungeschickt, fast spöttisch aussehend bei solcher Gelegenheit. So drückte er nur ihre schmalen Finger in den seinen. »Ich danke für alles.« Und wiederholte dieselben Worte mit gleichem Händeschütteln gegen Pierre.
Als der Geheimrat mit Pierre und Arvède die Treppehinunterging, hatte er ein Gefühl tiefer, köstlicher Erleichterung. Schon jetzt genoß er diesen Besuch in Thurweiler wie eine schöne Episode. Nun war sie abgeschlossen. Ein Wort aus seinem neuen Aufsatz, das er lange gesucht hatte, stand klar und gut eingefügt vor seiner Vorstellung. Das machte ihn froh.
Ein paar Hin- und Herrufe noch, ein Winken, das Auto fauchte davon.
»Reizende Leute, die Füeßlis,« sagte Arvède gähnend und zog dem Gaste die Decke höher hinauf.
Beide sprachen lange nichts.
»Ich schäme mich, wie wenig ich weiß von dem Treiben der elsässischen Jugend,« sagte Hummel plötzlich.
Meckelen, im Einschlafen begriffen, fuhr erstaunt auf. Der Professor war doch
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