Die Verborgene Schrift
so grausamen Miene umher, daß man meinte, sie habe einen abgeschlagenen Kopf zu präsentieren.
»Wenigstens hat Papa wieder seinen Humor zurückgefunden,« sagte Françoise und reichte ihrem Manne zärtlich die Hand. Dann richtete sie sich auf. Sie sei beschämt über sich selbst und ihre Schwäche. Aber der Eindruck wäre zu fürchterlich gewesen. »Dieser Haß auf einmal von allen Seiten. Man warf uns unser Geld vor die Füße. Man wollte uns nichts zu essen geben. Man glaubte uns Deutsche.«
»Und sie hatten recht damit,« sagte Pierre. »In diesem Augenblick, den ekelhaften Megären gegenüber, inmitten all dieser Ungerechtigkeit und blinden Torheit schämte man sich der berühmten französischen Kultur, die man so sehr geliebt hat. Man fühlte sich als Deutscher.«
Die Wirtin brachte den Kaffee. Ein hausväterisch bürgerlicher Duft begann im Zimmer aufzusteigen. Unwiderstehlich behaglich. Françoises Klagen und Pierres Worte von eben verschwebten darin und verflüchtigten sich, ganz dünn und friedsam.
Die Wirtin rühmte, während sie die buntgeringelten »Kaffeeschüssele« aufstellte und vollgoß, die bereits zum Abend frisch gebackenen Hörnchen, die »croissants« . Der Bäcker gegenüber habe in Paris gelernt. Seine Brioches seien genau wie die, die man in Notre-Dame an Stiftungstagen den Armen verteilt. Nun brachte sie auch ein Paket herauf, das für Madame Füeßli mit der Post gekommen war. Françoise wurdeganz froh im Gesicht, als sie es sah. »Ah, da ist es. Unser Geburtstagsgeschenk für den Geheimrat Hummel. Er liebte ihn so, den alten kolorierten Kupferstich von Thurwiller. Wir wollen ihn hübsch rahmen lassen für ihn.«
Sie begann die Schnüre aufzuknüpfen. Es kam eine bunte Schachtel zum Vorschein. Martin kannte sie. Sie hatte immer hinter dem Nähtisch der Mutter gestanden, und das festverschlossene kleine Gehäuse hatte für ihn immer etwas angenehm Geheimnisvolles gehabt. Mamas Erinnerungskästchen. Die Mutter öffnete es nur, um kanonisierte Denkwürdigkeiten hineinzulegen. Dann war jedesmal, ganz zart, ein Duft herausgeströmt. Nach Herbstblättern roch es, nach Blumen und süßem Staub. So wie gar keine anderen Dinge in der Welt jemals rochen. Ganz selten auch zeigte ihm die Mutter von ihren Schätzen. Da war ein uraltes, ganz versteintes Kuchenstück von Pauls Hochzeit. Martins erste Schühchen und eine seiner braunen Kinderlocken, sorgfältig mit Goldschnur umbunden, Briefe knisterten, und Zettel lagen da, deren Tinte blaßgelb aussah. Und einmal hatte er sich mit einem Knopfe seines Kittelchens in eine vergilbte lange Seidenfranse verwickelt, die zu einem Schal gehörte, der dann, mit hinausgezerrt, alle Herrlichkeiten zu Boden streute, daß die Mutter eilig, rot vom Bücken, sie wieder auflesen mußte. Es hatte auf Martin einen befremdlichen Eindruck gemacht, daß er nicht helfen durfte, und daß maman so ernsthaft aussah beim Einsammeln.
Pierre Füeßli machte sich zum Gehen zurecht. Er mußte wegen der Pässe zur Polizei und hatte Geschäftliches zu besprechen mit hiesigen Abnehmern seiner Fabrikation. Françoise wollte inzwischen den Rahmen für den Kupferstich besorgen. Bei Hummel wollte man sich dann treffen. »Und weißt du was,« sagte Françoise, »laß uns Père Anselmes Zettel daraufkleben. Eigentlich gehört er ja mehr ihm als mir.« Sie kramte einen schmalen zartblauen Umschlag hervor und gab das alte, stark vergilbte Papier ihrem Sohn zu lesen. In französischer Sprache stand darauf:
»Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, und auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern.
Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.«
Darunter stand: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«
Martin hielt das Papierchen pietätvoll in der Hand. »Also gerade vor dem großen Kriege war der Geheimrat in Thurweiler?«
»Ja, gerade vorher,« sagte Pierre aus der Schlafstube heraus, wo er sich die Hände wusch. Martin sah wohlgefällig zu, wie sein schöner alter Vater, dem der schneeweiße Bart etwas Bedeutendes gab, sich so frisch und tatkräftig umherbewegte. Von drinnen herausredend, befragte er den Sohn jetzt über allerhand Einzelheiten seines Lebens, wollte von seinen Studien
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