Die Verborgene Schrift
Hummels helle junge Stimme zuversichtlich: »König Wilhelm wird kein unnötiges Blutvergießen zulassen.«
Der Maire betrachtete ihn mit Wohlgefallen. »Sie lieben Ihren König!« Er seufzte. »Sie sind zu beneiden.«
»Man ist hier nicht sehr patriotisch?«
Balde machte ein ernsthaftes Gesicht: »Was mich betrifft, ich habe dem Louis Napoléon Treue geschworen und werde sie halten. Im übrigen – man könnte sehr wohl gegen Papst und Kaiser sein und trotzdem sein Vaterland lieben. Vielleicht sogar besser,« fügte er hinzu. Seine Stimme klang wie das Grollen eines treuen Hundes, der Gefahr anzeigt.
Frau Balde sah ihn mütterlich an: »Er ist ein liebes, großes Kind!«
Man befand sich im hinteren Garten, dem ehemaligen Klosterkirchhof, der über den zerfallenen Gräbern mittelalterlicher Mönche Frau Baldes Rosen und Gemüsebeete aufs vortrefflichste gedeihen ließ. Die Grenze bildete hier die Wallmauer mit dem Blick auf die Getreidefelder, dahinter sah man die Schornsteine der Schlotterbachschen Fabrik, links die Ill und das Spitalwäldchen. Nach dem Hause zurück führte eine breite, schattig lockende Kastanienallee, die in der Mitte des Gartens sich zu einem runden Platz ausweitete. Farbige Kleider schimmerten da.
»Unsere Jugend,« sagte der Maire. Sie steuerten darauf zu. Da sie näher kamen, sahen sie die beiden Schwestern mit der kleinen Désirée und irgend etwas Wagerechtes, hin und her Blitzendes zwischen den Bäumen. Der Maire lachte: »Voilà la petite paresseuse!« Frau Balde machte ein unzufriedenes, fast strenges Gesicht. Jetzt erkannte auch Heinrich, was dazwischen zwei Kastanien schwebte: Lucile in einer Hängematte, die sie durch Aufschnellen und Zurückfallen in Bewegung hielt. Als die drei näher kamen, zog sie, wie in kindlicher Schüchternheit, das Netz ganz eng um sich und blieb mäuschenstill so liegen. Sie sah reizend aus in dieser Fischpose mit dem dunkeln, spitzbübisch beschämten Gesicht. Balde, geleitet durch das etwas erzieherische Schweigen seiner Gattin, versuchte gleichfalls streng auszusehen: » Eh bien, la petite, es ist nicht Schlafenszeit, wie ich glaube?«
Lucile richtete sich auf. Sie schlang graziös ihre Arme um den breiten, grauhaarigen Mann: »Nicht schelten, Papa Balde, Sie wissen, ich bin nichts als ein Kind, das spielt.« Und sie ließ sich von ihm herausheben.
Heinrich Hummel verwandte keinen Blick von ihr. Noch nie war ihm etwas so Entzückendes begegnet. Er hatte es ja gewußt, daß ihm in Thurwiller das Glück kommen würde! Und sein Blick ging zu Françoise hinüber, die schlank und kräftig zwischen den Büschen stand und mit der Kleinen Blätterkränze steckte. Ihr Gesicht war blaß, wie sie jetzt nach ihm hinsah.
Die Allee ging vom Boskett aus weiter zum Vorgarten hin. Dort hatte Vater Dugirard im gleichen Augenblick ein strenges Verhör zu bestehen. Im Begriff, nun wirklich endlich zum Angeln aufzubrechen, wurde er von Luciles alter Wärterin zurückgehalten, die sich mit imposanter Miene vor ihm aufpflanzte.
»Monsieur geht aus? O, ich weiß schon, Monsieur denkt nur daran, sich zu amüsieren, Monsieur denkt aber nicht an seine Pflicht. Monsieur vergißt, seine Demoiselle Tochter zu überwachen in dieser schrecklichen Provinz, in der es erlaubt ist, daß die jungen Fräulein ohne Papa und Mama und ohne dame d'honneur mit den jungen Leuten spazierengehen. Das ist nicht schicklich, o nein, das ist unmoralisch. Und der Effekt – voilà!« Sie wies mit dem mageren Finger, der aus einem schwarzen Filethandschuh herausstak, nach dem Boskettplatz und Luciles Hängematte. Dugirard setzte sich sein Pincenez auf und sah hin. Er lächelte. Die helle Jugend da imgrüngoldnen Baumschatten gefiel ihm sichtlich, aber die treue alte Frauensperson war empört. »Monsieur lacht, aber ich werde nach Paris an Madame schreiben, was hier vorgeht. Dann wird Monsieur schöne Dinge zu hören bekommen, o ich versichere Sie, schöne Dinge.«
»O, Sie verstehen zu schreiben, Louison?« Es war die einzige kleine Rache, die er wagte. Aber die Alte ließ sich nicht besiegen. Wie eine Pythia streckte sie die Arme gegen die Gesellschaft da hinten aus:
»Man wird Lucile nie verheiraten, wenn man nicht vorsichtiger ist. Niemals.« Damit drehte sie sich um und ging in den Küchenflur zurück.
Dugirard blieb nachdenklich stehen. Sie hatte recht, seine Frau plante eine Verbindung Luciles mit dem jungen Victor Hugo Schlotterbach. Er war erst vierzehnjährig, das ist wahr, zwei Jahre
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