Die Verborgene Schrift
jünger als Lucile, aber die Fabrik machte ein schönes Geld, und die Schlotterbachs hatten ohnedies Vermögen. Der Kleine war vor ein paar Tagen aus dem Lyzeum in Kolmar zu den Ferien heimgekehrt, die Kinder hatten sich gut gefallen. Vorerst freilich schien der Junge über beide Ohren verliebt in Françoise, aber das ging vorüber. Nur mußte man vorsichtig sein, daß nicht etwa dieser junge Deutsche – sie machte schöne Augen nach ihm hin. Aber ein Deutscher! Bah! Seine Tochter würde keinen so schlechten Geschmack haben. Immerhin – er war hübsch, und die Frauen sind unberechenbar. Er beschloß, wachsam zu sein.
Hummel hatte sich von Baldes verabschiedet. Am nächsten Nachmittage sollte er mit der Familie nach Sulz zur »Kilbe« fahren. Ihm war, als kenne man sich schon lange.
Noch in der Allee warf er einen Blick zurück auf diese Menschen, die ihm plötzlich wichtig geworden waren. Aber eigentlich sah er nur Françoise und das goldene, zitternde Licht auf ihren Flechten.
»Das schönste Haar im Städtchen,« fiel ihm ein.
Dann versuchte er sich Luciles pikante Reize zurückzurufen, Lucile, die er ja liebte!Auf dem Heimgang durch die gleichen Straßen, die ihm vorhin an Bourdons Seite banal und häßlich vorgekommen waren, empfand er jetzt alles lebendig, so als ob alles, was er hier sah, ihn innig angehe, irgendwie zu ihm gehöre. Ja, als ob das ganze Elsaß ihn angehe, von ihm verstanden und erfaßt werden müsse. Aufmerksam blickte er in die umbuschten Gärtchen, in die offenen ländlichen Torbögen. In der Mitte eines Hofes saß ein silberweißer Pfau auf einer Leiter und ließ sein Gefieder herabströmen wie einen Wasserfall. Das rührte ihn irgendwie. Lange stand er und schaute, bis die Hitze, die die Steinmauern von sich gaben, ihn nach Hause trieb.
Françoise Balde war in das obere Stockwerk hinaufgestiegen, um für Eusébe Blanc, den Bruder ihrer Mutter aus Straßburg, der heut abend erwartet wurde, die Giebelstube herzurichten. Sie tat ein Glas mit Blumen auf den Tisch, zog die Decken glatt und rieb an der Politur des Bettes. Alles mit einem verträumten, gleichsam nach innen horchenden Gesicht. Jetzt stellte sie auf der Kommode ein altes verschwommenes Daguerreotyp zurecht, der Mutter Elternhaus auf dem Lande in Frankreich, Frau Balde selbst davor mit ihrem Bruder, beide in kurzen, karierten Kleidchen mit langen Höschen. Dazu eine Photographie der Thomaskirche in Straßburg, an der Oncle Blanc Pfarrer war. Zuletzt ging sie das Treppchen hinauf nach dem Speicher und maß dort mit Arm und hochgehaltenem Kleid den runden alten Holztisch, gleichfalls Blancsches Erbteil, der mit sechs starren Holzstühlen gemeinsam hier, ernst und vornehm, den Wechsel der Moden verwartete. Der Onkel sollte es heimatlich haben. Er war immer ein wenig stadtmüde, wenn er heraufkam ins Oberland, und voller Dankbarkeit für jede Liebe hier. Mit einem Lächeln voll Güte stand Françoise da, prüfend blickte sie auf den Niederschlag der Geschlechter, der sie hier umgab. Octave Baldes rostige Säbel hingen da, Pistolen und Uniformen der vergangenen Régimes, ein mottenzerfressener Predigertalar, lederne Mantelsäcke und gestickte, behagliche Reisetaschen. Alle hatten hieroben abgelegt, die Unruhigen und die Seßhaften. Aus den Schränken roch es nach Lavendel und Thymian, das Sparrenwerk krachte vor Hitze. Françoise rückte dies und glättete jenes, ihre Hände hatten das Leichte, Schlanke der Gutzugreifenden.
Plötzlich aber quoll ein heißer Schmerzensstrom in ihr auf und stürzte ihr aus den Augen. Ganz steif stand sie da mit emporgehobenem Gesicht. Dann lächelte sie wieder tiefverklärt.
Und all dies Sonderbare geschah ihr am Vorabend ihrer Lebensentscheidung. Denn morgen sollte der Mülhauser reiche Fabrikantensohn Pierre Füeßli seine Antwort haben. Die Bedenkzeit war ja doch nur eine Form gewesen. Es war ihr gar kein Zweifel gekommen, daß sie diesem Freier Ja sagen würde. Nun aber – – Lange saß sie da oben auf einem der alten, hohen Stühle, lächelte und weinte.
»Meine Tochter empfängt in ihrem Boudoir,« sagte Onkel Camille zu Heinrich, als sie am nächsten Morgen sich auf den Weg zum Château Schlotterbach machten. »Die Fauteuils im Salon stecken meist in ihren Bezügen. Man arrangiert ihn nur für angemeldete Gäste.«
Das erste, was Heinrich sah, als er bei Madame Schlotterbach eintrat, war mitten im Zimmer ein niederes, blau und orange garniertes Bett von gewaltigen Dimensionen,
Weitere Kostenlose Bücher