Die Verborgene Schrift
Ausbrüche des Vesuv, über die Pazifizierung Algeriens und weiter über Dinge, die keiner von ihnen genau kannte, und die keinen von ihnen interessierten.
»Sie lieben Musset?« fragte endlich Madame Schlotterbach. Sie nahm ein goldgeschnittenes Büchlein vom Ziertisch. »Erberauscht mich. O diese köstlichen einsamen Abende am Kamin! Mein Mann spielt Billard bei Monsieur de la Quine, ich sitze mit meinem Buch hier in der Ecke und lese. Gut ist's da! Ah qu'il fait bon dans mon coin, j'en ai le frisson !« Sie schauderte graziös.
»Ach, wirklich?« sagte Hummel. Er hatte entdeckt, daß ihr goldenes Medaillon, zwischen dem viereckigen Halsausschnitt hin und her gleitend, auf dem gepuderten Busen einen breiten, schwarzen Strich beschrieb. Das zerstreute ihn.
»Frankreich liebt nur eine Poesie,« sagte Théophile Schlotterbach unvermittelt, »die poésie parisienne .«
»Und Elsaß?« fragte Hummel.
»Aber das ist die gleiche Sache, mais c'est la même chose !«
»Soviel ich gelesen habe,« erwiderte der junge Doktor mit Gründlichkeit, »existiert doch auch eine speziell elsässische Poesie? So etwa wie es eine elsässische Malerei gibt: Vautier zum Beispiel.«
»Monsieur hat recht,« sagte Schlotterbach höflich. »Es gibt eine elsässische Poesie, aber das ist schon lange her, sehr lange.«
»Gottfried von Straßburg?« fragte Hummel.
» Mais certainement .« Madame Schlotterbach gähnte verstohlen. Jetzt wurde Bourdon lebendig: »Aber Sie vergessen, Monsieur Théophile: unser ›Hans im Schnokeloch‹.« Er lachte über das ganze Gesicht. Behaglich stellte er sich auf seine beiden Beine und deklamierte:
»D'r Hans im Schnokeloch
hett alles, was er will,
und was er will, das hett et net,
un was er hett, das will er net,
d'r Hans im Schnokeloch
hett alles, was er will.«
Madame Schlotterbach fächelte sich stärker: »O, Papa!«
Auch Schlotterbach zuckte die Achseln: »Sie sehen, Monsieur, das nennt sich hier Poesie.«
Aber Bourdon war diesmal nicht einzuschüchtern: »Das Gedicht ist ganz gut! Und außerdem – man sagt ja, der Hans imSchnokeloch wäre der Elsässer, wie er leibt und lebt. Das muß einen Ausländer doch interessieren, nicht wahr, mein Neffe?«
Auch Heinrich beharrte: »Nun wohl, die elsässische Poesie könnte inmitten der ermüdeten » poésie parisienne « eine Enklave naiver Frische bilden.«
»Ohne Zweifel,« sagte Madame höflich.
Hummel wurde warm. »Und sehen Sie, das wäre sogar eine Mission für das Elsaß. Es könnte eine Einzelpoesie schaffen, wo es jetzt nur Mitläufer ist. Eine Einzelpoesie, wie wir Deutschen sie pflegen. Denn das ist vielleicht der Vorzug unserer sonst so beklagenswerten deutschen Kleinstaaterei: Eine Anzahl Nebenflüsse ergießen sich unaufhörlich in den großen Hauptstrom deutscher Poesie und führen ihm frische Nahrung zu.«
»Monsieur Hümmelle hat ganz recht, parfaitement ,« sagte Madame Schlotterbach wieder. »Aber nun müssen Sie mir von Deutschland erzählen, es muß charmant sein, ganz und gar pittoresk! Ich weiß leider so wenig davon. Meine Tochter dagegen –« Sie warf auf den hübschen jungen Deutschen einen prüfenden Blick. Ihr fiel ein, ob es nicht ganz gut wäre, ihre Virginie bliebe nicht länger im Kloster, sondern verheiratete sich? Der junge Mann würde dann in die Fabrik eintreten, man würde ihn französieren. Deutsche sollen ja so tüchtige und fleißige Leute sein. »Ich war schon einmal in der Schweiz mit meiner Tochter,« plauderte sie weiter, »in Lausanne. Die Schweiz – das ist ja beinahe Deutschland, nicht wahr?« Er würde ihr gefallen, dachte sie, für einen Franzosen paßt sie nicht, sie hat den bäuerlichen Geschmack ihres Großvaters.
»Zu denken, daß man schon eine erwachsene Tochter hat!« begann sie wieder. Sie seufzte ausdrucksvoll. Théophile Schlotterbach wartete eine Weile auf das Kompliment, das Hummel seiner Frau sagen würde, da es aber nicht kam, äußerte er selbst:
»Man würde sie beide für Schwestern halten!« Er putzte dabei aufmerksam sein Monokel mit einem hochroten Foulard.
» Vrai ? O ja, man ist noch keine alte Frau. Glücklicherweise.«Jetzt endlich schwang sich Hummel zu einer kleinen Höflichkeit auf, die mit erfreutem Lächeln erwidert wurde. Und nun kam die Dame in ihr Fahrwasser. »Ich habe mich früh verheiratet, Sie wissen. Meine Tochter hat nur siebzehn Jahre weniger als ich. Madame de la Quine freilich behauptet, es seien zwanzig. Sie könnte es gut genug wissen. Denn sie hat
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