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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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ringsum fanden, trieb ihm das Blut zu Kopfe. Er seufzte.
    »Laß uns hier gehen durch meinen Schlupfweg,« sagte der Knabe zärtlich, »es ist näher.« Er schlug einen schmalen Querweg ein ins Gebüsch hinein. Bei ihrem Nahen flog ein Volk Rebhühner auf, ein sonderbares Geräusch folgte, wie von einem kriechenden Menschen. Hummel sah scharf hinüber: aus dem Unkraut hob sich ein struppiger Kopf, graugelb mit langem,bloßem Halse. Er ging näher und lachte laut auf, da war nichts als ein alter ausgewachsener Weidenstumpf.
    »Dachtest du auch, es wäre ein Mensch?« fragte er den Knaben, der ganz fahl geworden war. Er klopfte ihm auf die Schulter: »Ei, ei, Vetterlein, wo bleibt die Courage?«
    Victor Hugo fuhr auf: »Wenn Sie das glauben!« Sein Gesicht war schon wieder voll Tränen.
    Und dann kam die ganze bedenkliche Geschichte heraus. Gerade an dieser Stelle hatte Victor Hugo vor etwa acht Tagen einen entsprungenen Sträfling gesehen, geduckt, blutend, halb verhungert. Der hatte ihm von ferne Zeichen gemacht, ihn nicht zu verraten, war dann sogar herangerutscht, ihn anzubetteln; da hatte er ihm alles Geld hingeworfen, das er bei sich hatte, die Düte mit Kirschen, die er trug, und hatte dann sogar, etwas weiter weg von ihm, seinen Schulrock ausgezogen und ihm hingeworfen. Zu Hause hätte er gesagt, er habe ihn in der Thur beim Baden verloren. Am nächsten Tage hörte man von mehreren Diebstählen in der Nähe. Aber bereut habe er die Sache dennoch nicht, der Mensch hatte so verzweifelt ausgesehen. »Bis jetzt habe ich noch keiner Seele davon gesprochen, keiner, aber Ihnen – dir sage ich es! Dir, weil sie dich so arg, arg gern hat!« Der naive Ausdruck mitten in sein Französisch hinein, zeigte, wie ernst es ihm war damit.
    Heinrich faßte ihn an den Schultern und betrachtete ihn. »Darum also? Du bist doch ein guter Kerl, kleiner Vetter.«
    Der sah ihn vertrauensvoll an. »Zuerst, o, war ich Ihnen so gram. Sie waren schlecht zu der Dame, der mein Herz gehört, ich wollte mich schlagen mit Ihnen. Und ich hätte es auch getan. Erstens um Mademoiselle Baldes willen, dann aber auch, ja eigentlich hätte ich erst recht mich schlagen sollen mit Ihnen, mein Herr, wegen Mademoiselle Dugirard, der Sie schöne Augen machten! Sie wird einmal meine Frau werden, und dann – dann natürlich wird es meine Pflicht sein, ihre Tugend und ihren Ruf zu verteidigen. Jetzt aber muß ihr Vater noch für sie einstehen.«
    Hummel sah ihn verblüfft an.
    »Lucile Dugirard heiraten? Ja, aber du liebst doch eine andere, wie du merken läßt!«
    »O, es ist so gut wie fertig, unsere Eltern haben es alles abgemacht. Und, sehen Sie,« – er lächelte wie ein Erfahrener – »es ist für mich das Vernünftigste und Beste. Vorher aber, wissen Sie,« – er näherte sein hübsches Gesicht kokett dem des älteren Freundes – »vorher darf ich noch unvernünftig sein, darf lieben und, wenn ich das lycée hinter mir habe, sehr gut das Leben kennenlernen. Sehr gut, das kann ich dir versichern, deutscher Vetter!« Er lachte.
    »Und nachher, wenn du Fräulein Dugirard zur Frau hast?«
    »O, dann werde ich für die Mitgift meiner Tochter arbeiten. Im übrigen aber« – er zuckte die Achseln mit einer Geste, die an seinen Papa erinnerte – »ich werde es machen, wie es jedermann macht.«
    »So wie jedermann,« wiederholte sich Hummel. Nun, Françoise würde wenigstens einmal nicht solch einen Jedermann zum Gatten haben, Gott sei Dank!
    Er ging so schnell vorwärts, daß der Knabe ihm kaum folgen konnte. Man überschritt nun noch ein großes Brachfeld, das voll Dornen und Blumen stand, und kam zuletzt glücklich über die Schleuse zur Fabrik, die nur durch eine hohe Parkmauer vom Wohnhause getrennt war. Victor Hugo warf sich in einem erneuten Anfall schöner Gefühle seinem glücklichen Nebenbuhler um den Hals: »Und wenn du abreisest, nicht wahr, dann vertraust du Françoise meinem Schutze an, ich werde sie dir hüten.«
    Hummel lachte. »Schönen Dank, kleiner Vetter, aber ich glaube, Fräulein Balde hütet sich selbst.«
    Er steckte ihm den Schlüssel ins Tor und schloß auf. »Gute Nacht, schlaf' dich gut aus! Morgen wirst du hoffentlich nichts mehr von allem wissen, was du da eben geredet hast. Du hattest einen kleinen Rausch heut abend, kleiner Vetter, da bildet man sich Dinge ein, die niemals geschehen sind. Nicht wahr?«
    »Ich werde schweigen,« sagte Victor Hugo hoheitsvoll und ein wenig gekränkt. Dann schlug er seinen Kragen auf, weil

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