Die Verborgene Schrift
Der Zug bewegte sich schon, als er endlich hineinsprang. Er sah noch einmal hinaus. »Das war ein Sprung, he?« Die Sonne fiel auf sein schmales, liebenswürdiges Gesicht mit dem feinen Näschen. Er winkte und grüßte übermütig: »A bientôt, à bientôt.« Dann war der Zug fort.
»Keiner kommt wieder,« sagte Hortense. Sie wurde ohnmächtig. Von Pierre unterstützt, brachte Françoise sie nach dem Bahnhofsgebäude. Dort erholte sie sich langsam.
Man hatte ihnen ein kleines Damenzimmer aufgeschlossen und Pierre mit hineingeschmuggelt. Hortense saß in einem Sessel und trank starken Kaffee, während Françoise und Pierremit halblauter Stimme plauderten. Sie wollten Hortense sich selbst überlassen.
Françoise fragte nach Pierres Tätigkeit, und wie man sich in der Fabrik seines Großvaters in die politischen Verhältnisse schicke.
Pierre antwortete: An Aufträgen fehle es nicht, aber man habe früher das Rohmaterial zum großen Teil aus Deutschland bezogen, und so werde sich wohl bald ein Stillstand fühlbar machen. Überhaupt sei für ihn selber nicht recht viel zu schaffen dort. Und zum Ornament eigne er sich nicht. Schon seit einiger Zeit, fuhr er lebhafter fort, sei ihm seine dortige Abhängigkeit von den Verwandten beschämend und lästig. Er habe sich daher seit langem mit dem Vorsatz getragen, die Vorschläge der Firma Schlotterbach in Thurwiller anzunehmen, die ihn zum Mitdirektor der dortigen Fabrik haben wollte. Aber nun –« er stockte und sah zu Françoise herüber, die in die Ferne hinausstarrte.
»Das waren so meine Luftschlösser,« sagte er hart. »Sie haben sie mir zerschlagen.« Eine unbehagliche Pause folgte. Dann aber, ritterlich das Schweigen brechend, das die Frauen peinigte, fuhr er fort: »Fürs erste bleibt man hier und tut das Nächste.« Er berichtete noch, er habe mit der Eisenbahndirektion vereinbart, daß er einen Wagen mit Lebensmittellieferung einstellen dürfe, und dann wolle er so weit wie möglich mit Pferd und Wagen zu den Kämpfenden hinausfahren.
Françoise strich sich das Haar aus der Stirn. Sie dachte an Heinrich, und daß alles, was hier geschah, zum Besten seiner Feinde sei. Das machte sie still und unteilnehmend. Dabei konnte sie sich doch der Sympathie für ihren abgewiesenen Freier nicht entziehen, dessen Art ihr nahestand wie die eines Bruders.
Es war schon dunkel, als die beiden Damen ihre Fahrt antraten. Wieder saßen sie schweigend beieinander. Sie hielten sich an den Händen, wie um einander zu trösten, aber ihre Gedanken waren weit getrennt.
Die Straßen, über die sie anfangs fuhren, atmeten noch Tagesstaub und Tageshitze in den kühlen Mond hinauf, bald aberwurde die Nacht immer frischer und herrlicher. Große Sterne kamen, glanzvoll gewölbt strahlte der Himmel über ihnen. Die Dörfer, durch die sie fuhren, bekamen etwas ganz Unwirkliches in diesem stillen Licht. Mondschein lag in Brunnen und Gossen und huschte geisterhaft zwischen den Waldbäumen. Ein paar Rehe kamen heran und standen wie Verzauberte. Ab und zu hörte man Marschieren auf den harten Straßen, begegnete einem Trupp von Arbeitern, erst halb eingekleidet, die müde, manchmal mit gewaltsam auflärmendem Gesang, dahinzogen. In einem der Dörfer waren noch alle Fenster hell, die Alten lehnten hinaus, die Jugend wartete auf der Gasse auf ihre »piou-pious« . Die kamen denn auch endlich, rasch, kurzschrittig, die Brust voll Papiersträußchen, Trommler und ein paar Blechbläser voran. Aus den Häusern rief man nach ihnen und winkte. Sie nickten und warfen Witze hinauf. Eine magere Frau, verhärmt und verzottelt, hing sich wie eine große wilde Katze ihrem Mann an den Hals. Er schüttelte sie ab und gab ihr einen Stoß, daß sie zurückflog. Alle lachten. Sie stand da, krumm und sehnig, mit geballten Fäusten und lachte vor Jammer. »So, loß sie numme geh, die arme Chaibe, sie gehn in d'r Tod.«
Alle wurden still. Dann eine Bewegung wie eine Woge, die zusammenschwillt und wieder auseinanderrinnt. Man hörte schluchzen. Einer aus dem Trüppchen schrie: »Sin doch zufriede, ihr Wiewer, 's Fleisch wird jetz billig, d' groß Metzig fangt a.«
Da warfen sich die beiden jungen Frauen im Wagen einander in die Arme und weinten aus Herzensgrund.
In Thurwiller kam man noch immer vor allen den kleinen Wichtigkeiten der lokalen Begleiterscheinungen nicht zum Bewußtsein der großen Bewegung selbst. Man hatte sich schnell recht behaglich eingenistet in den Kriegszustand, und die dazugehörige
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