Die Verborgene Schrift
und versenkte eine schwere Kassette im Garten. Er grub auch die besten Stücke seiner Waffensammlung da ein. Seins Frau lief unterdessen mit hellen Tränen treppauf und treppab. Sie bereitete ihren Sohn Victor zur Abreise. Die Preußen schleppten ja alle jungen Leute mit. Sie rissen sie von den Röcken der Mütter, sie suchten sie mit dem Bajonett im Stroh der Ställe!
Victor Hugo sollte zuerst nach Mülhausen gehen, dann mit Pierre Füeßlis Hilfe zu einem Geschäftsfreund nach Basel befördert werden, der dem Kleinen Zuflucht gewähren würde. Die Lyzeen begannen zuerst noch nicht wieder.
Victor Hugo selber widersetzte sich diesen Anstalten. Er wollte bleiben, erleben, womöglich handeln. Er lief zu seinem Freunde Arvède: »Wollen wir nicht nach Kolmar fahren und uns dort bei der Compagnie des Franctireurs anwerben lassen?«
Aber der junge Meckelen schüttelte den Kopf. Er könne das seiner Mutter nicht antun. Seltsam scheu und traurig brachte er das hervor. »Papa ist nach Châlons gefahren,« sagte er dann, »ins Hauptquartier zum Kaiser Napoleon. Du verstehst, ich muß ihn hier vertreten bei maman , Frankreich vertreten.« Sein zartes Gesicht war tief und schamhaft errötet.
Victor Hugo umarmte ihn schluchzend. »Auch unsere Zeit wird kommen,« sagte er pathetisch, »fügen wir uns der Notwendigkeit des Augenblicks!«
Aber er war nicht so recht zufrieden mit seiner eigenen Phrase. Langsam ging er die Landstraße zurück, die eintönig zwischen den abgeernteten Feldern hindurchlief. Es roch scharf, fast stechend nach verwesendem Kraut und feuchter Erde. Die Ferne verhängte sich, gerade als werde es schon Nacht. Trostlos war alles, sonnenlos und einförmig. Und draußen, vielleicht gar nicht weit von hier gab es rotes, lebendiges Leben, da lärmte und jauchzte der Krieg, da setzte man sich selber ein und gewann Ehre, Ruhm!
Victor Hugo sah sich dahinspringen mit hochgehobener Fahne, oder, noch herrlicher, im strahlenden Römerhelm, den schwarzen Roßschweif um die Schultern gepeitscht, hin und her jagen,wichtige Botschaft vermittelnd; oder mit geschwungenem Säbel als vorderster, auf die Feinde zufliegen, Blut und Tod in ihre Reihen bringend.
Die Feinde! Er versuchte sie sich vorzustellen. Immer aber sah er nur eine hohe, kräftige Gestalt mit breiten Schultern und dem blonden Jünglingskopfe, den er liebte: Heinrich Hummel, sein Rival. Er konnte ihn sich gut vorstellen, fest und unerschrocken, ohne viele Worte auf den Schlachtfeldern umhergehend, den Verwundeten zu helfen. Und einen Augenblick war es ihm fast lieb, daß er noch zu jung war, um gegen den Feind zu kämpfen, in dessen Reihen auch Hummel war. Aber gleich darauf kam die Abenteuerlust wieder über ihn. Das Blut seines deutschen Urahns, das er mit dem geliebten Feinde gemein hatte, regte sich in ihm. Warum war er nicht Soldat! Warum gehört er nicht mindestens zur Garde mobile? Oder durfte sich in die Ordnung der Franctireurs aufnehmen lassen. Aber das würden seine Eltern nie erlauben!
Ein paar Jahre nur älter sein jetzt!
Er hob die zusammengelegten Hände, als könne er's erbeten. Und der aufgeregte Knabe hatte das Gefühl, er würde gern seine Seele selbst dem Teufel verschreiben, wenn das ihn hineinbringen könnte in den bunten, heißen Wirbel, der jetzt allein Leben bedeutete.
Ohne weiter seiner Schritte zu achten im Gebrause der stürmenden Gedanken, war er doch zuletzt wieder nach Thurwiller zurückgekommen und ging nun langsam am Kanal entlang, dessen Weiden dunkel und grotesk da kauerten und ihre schwanken Zweige nach ihm hinbewegten.
Er bog in seinen schmalen Schlupfweg ein, den er damals mit Hummel gegangen war. Auch heute wieder starrte der alte, graugelbe Weidenstumpf mit grünwehendem Haar wie ein verwitterter Kopf auf langem Halse aus dem Wiesenkraut hervor. Plötzlich, nah einem Schlehenbusch, fühlte Victor sich am Jackenzipfel gehalten. Er meinte erst, es seien Dornen. Ohne sich umzuwenden, suchte er sich freizumachen und faßte – eine harte, geschmeidige Hand. Er schrie auf, eine zweite Hand,die nach Schlamm und Kräutern roch, legte sich auf seinen Mund. Entsetzt, mit aufgerissenen Augen warf er sich herum und stand vor seinem Vagabunden aus dem Frühjahr.
Der Mensch steckte noch in dem freilich jetzt arg beschmutzten und zerrissenen Jackett, das ihm Victor Hugo damals zugeworfen hatte. Er war entsetzlich vermagert, mit Augen wie ein hungriger Hund. Victor Hugo fühlte mit Unbehagen, daß Furcht in ihm aufstieg. »Was
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