Die Verborgene Schrift
schwankte das Gebäude deutlich spürbar, Baldes Schatten fiel beruhigend über Françoise hin. Sein Kopfumriß huschte hin und her über ihrer Brust. Sie fühlte sich geborgen so.
Droben riß der Wind ihr das Haar zu einem Mantel auseinander. Balde hatte ein Fernglas mitgenommen, richtetees und schraubte es zurecht. Er blickte angestrengt nach Osten. Dann ließ er auch die Tochter sehen. Wie eine schlafende Herde lagen die Berge des Schwarzwaldes da. Unten blinkte hin und wieder ein Stück Rhein, Städte und Dörfer farblos, die Türme, die Dorfdächer wie ertrunken, nebeldünn, die Wälder wie schwarze, stumpfe Seen.
» Pas l'ombre d'un Prussien, nicht der Schatten eines Preußen, m'r kann ruhig schlofe.« Er nahm das Laternchen wieder auf. »Net Grille fange, Kind,« sagte er, ihr das Flatterhaar zärtlich zusammenfassend. »Nas' in d'r Wind, Auge hell, so g'hört sich's für a rechts Maidele.«
Sie nickte, die Augen voll Tränen. Dann sagten sie nichts mehr zueinander. Sie stiegen ruhig wieder ab in Staub und Dunkelheit auf der morschen, knarrigen, vielgewundenen Treppe, Balde voran, der Schatten seines guten, mächtigen Kopfes wie ein Schutz über ihr.
In dieser Nacht erschien plötzlich kurz nach Mitternacht im Baldeschen Hause eine fragwürdige Gestalt, schlotterig, in einem blaugemusterten Schlafrock mit schief gerutschter Nachthaube. Es war Mademoiselle Nudele, des Pfarrers Kusine. Sie hielt in der Hand einen langen weißen, vollgebeulten Strumpf, in dem ihre Louisdor und Franken steckten, und bat um Gottes willen, der Maire möchte ihr ihre Ersparnisse verwahren. »Man hat sie angekündigt noch für diese Nacht, die Pickelhauben, horreur !« Sie zitterte und weinte.
Wer es gesagt habe, fragte Balde, der im Schlafrock auf der Diele stand.
O, das wüßten alle. Sie habe schon im Bett gelegen, da sei die Magd hereingestürzt. Die hat es vom Bäcker-Nazi. In Kolmar auf der Place d'Armes ist ein französischer Offizier herumspaziert, den man nicht kannte, und als man ihm die Kleidung vom Leibe riß, – – war es ein Prussien! O, wenn der Herr Maire nur diesmal ihr helfen wolle, sie sei ganz allein im Hause und fürchte sich so sehr. Sie machte Anstalten, sich auf ihre fleischigen Knie niederzulassen. Françoise, die gleichfalls herabgekommen war, wehrte das mit ihrer ganzen Kraft ab.»Und der Curé?«
Ja, der sei mit Monsieur Cerf vor ein paar Stunden abgereist. Sie hätten wichtige Geschäfte in der Schweiz.
Balde nahm den Sparstrumpf. Françoise beruhigte die Aufgeregte und brachte ihr ein Glas Zitronenwasser. Dann machte sie ihr oben in Blancs nun leerer Stube ein Bett zurecht.
Françoise war noch mit ihr beschäftigt, als ein neuer nächtlicher Gast kam: Bourdon. Er brachte eine Ledermappe und ein Köfferchen. Ob der Maire so gut sein wolle, ihm das zu bewahren? Er selbst habe eilige Geschäfte in Basel. Und überdies – in jetziger Zeit – man könne nicht wissen!
Ob Madame auch reise, fragte Françoise.
Nein, sie nicht. Sie wolle das Haus nicht verlassen, ehe sie von Jules Nachricht hätte. Er selbst würde natürlich am liebsten auch hier bleiben, aber diese eiligen Geschäfte ... Er sah unruhig in alle Ecken.
Es hatten viele Thurwiller eiliger Geschäfte wegen zu verreisen in den nächsten Tagen! Täglich wurden die Gerüchte von der Ankunft der Pickelhauben bestimmter. Freilich löste sich bis jetzt jedes einzelne als komisches Mißverständnis. Eine alte Dame mit ihrem Hündchen, die in Kolmar von der Bahn gekommen war und einen vorübergehenden Bürger am Ackerhof fragte: »Ist das die Kaserne?« wurde mit Schimpfworten verfolgt und polizeilich ausgefragt, was sie mit verkehrten Erwiderungen beantwortete. Schließlich stellte es sich heraus, daß sie taub war. Ebendort hielt man den Sohn des Kirchenarchitekten, der, bei seinem Vater zu Besuch, eins der alten Häuser der Stadt aufmerksam betrachtete, für einen Spion und mißhandelte ihn mit Regenschirmen. Mülhauser Arbeiter demolierten einen Zirkus, weil dort Deutsche bei der Musik angestellt waren. Schließlich wurde die Furcht vor den wütenden Arbeitern fast größer als die vor den Preußen. Die Bürger, um sich im Notfall zu verteidigen gegen sie, stürmten die Waffenläden. Man hielt sich in Bereitschaft mehr noch für den inneren als für den äußeren Feind. Viele Leute packten ihre Habseligkeiten zusammen, um auszuwandern, andere gruben ihre Wertsachen ein.Auch Théophile Schlotterbach ergriff höchsteigenhändig den Spaten
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