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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Vorpostengefecht«, sagten die einen, »eine ernsthafte Affäre«, die anderen. Auf einmal Hallo und Lachen. Die Briefträgerin mit ihrer geflochtenen Tasche segelt über den Platz. Im Nu ist sie umringt. Jeder greift in ihren Sack hinein und zieht heraus, was er an Gedrucktem in die Finger kriegt. Jeder will der erste sein, der die Siegesnachricht verkündet. Die lesen können, stellen sich auf die Stadthaustreppe und werfen ihre Nachrichten auf den Platz hinunter. Mit tönenden Stimmen und runden Gebärden stehen sie da wie selber Siegende. Der Bäcker-Nazi ist der vorderste, dann folgt der bescheidenere Kirchensepp und der Älteste vom Justin, der die Lateinschule besucht. Zwanzigtausend Preußen seien bei Wissembourg geblieben, rufen sie, dreißigtausend gefangen, darunter der Kronprinz.
    Ein Brausen von Jubel antwortet ihm. Es war, als habe jeder hundert Kehlen bekommen. Die Männer nehmen die Hüte ab. Im Nu, wie auf ein Zauberwort sind alle Fenster mit Fahnen behangen. Sie wehen sich blähend und einander berührend über die Gassen hinüber. Menschen strömen zu undab. Man küßt einander, und die Stimmen sind wie Raketen, die nach oben steigen. Das geht so mehr als eine Viertelstunde lang.
    Auf der Rathaustreppe, die wieder leer geworden ist, erscheinen jetzt, aus dem Stadthause heraustretend, der Maire, Quine und der Curé. Sie haben sonderbar verschattete Gesichter. Quine macht eine vage Schulterbewegung, der Curé breitet die Hände gegen die Versammelten, als wolle er sie beruhigen. Balde steht einen Augenblick ganz still. Mächtig und gedrungen erscheint seine Gestalt zwischen den zwei Geschmeidigen. Quine redet auf ihn ein, er wehrt ihn ab. Barhaupt im feinen Regen stehend, das feste, altmodische Gesicht geradehinaus gewendet, sagt er mit klarer Stimme: »Ihr sin kei Kinder meh, ihr solle 's Wahre wisse, alle mitnander.« Und dann nach kurzer Pause, in der alle Gesichter sich hell, wie aufgeschäumt zu ihm emporwenden: »Mac Mahon isch g'schlage, bei Wissembourg, vollständig g'schlage, un d'r General Douay isch tot.«
    »Mac Mahon!« Erst ein Aufbrüllen, dann tiefes Schweigen. Mac Mahon geschlagen. Der Held von Sebastopol und Magenta. Sie fassen es noch nicht. Und auf einmal finden alle das verhängnisvolle Wort, das jedem Franzosen auf den Lippen liegt, sobald von einer Niederlage seiner Armee die Rede ist: »Verrat.«
    »M'r sin verrote, nous sommes vendus .« Wild blicken sie um sich, als suchten sie einen, den sie verantwortlich machen könnten, aber sie sehen nur ihren Maire, der barhaupt da im Regen steht und schweigt. Der Curé streckt jetzt wieder beschwichtigend seine Arme aus. »Nichts ist verloren,« sagt er, »alles kann wieder gut werden.«
    Und Quine fügt gleichfalls auf französisch hinzu: »Die Wahrheit! Wissen wir denn, ob diese Wahrheit nicht etwa eine schändliche Lüge ist, von unseren Feinden ausgestreut, uns hoffnungslos zu machen? Aber man wird sich täuschen. Derartige Ausstreuungen sind nur dazu geeignet, unsern Mut zu überreizen. Und vergessen wir doch nicht« – seine Stimme drang dünn und scharf in die Menge – »vergessen wir nicht, daß zwischen Nancy und Thionville eine Armee vonfünfhunderttausend Mann steht, bereit loszuschlagen. Und die Elsässer marschieren dann als erste in den vordersten Reihen. Also ich wiederhole die Worte des Herrn Curé: Alles kann noch wieder gut werden, nichts ist verloren. Und unser Frankreich – nehmen Sie, meine Freunde da unten, das Wort eines Edelmannes: Frankreich wird in wenigen Tagen gutgemacht haben.« Seine Stimme klirrte und triumphierte, als sei er selber bereit, eine Armee gegen den Feind zu führen.
    Und wieder einmal siegte die schöne Geste. Sehr leicht diesmal. Man war ja so froh, glauben zu dürfen. Man klatschte in die Hände, man begann wieder zu plaudern.
    In diesem Augenblick fuhr, rumpelnd und klappernd, »Petit-Singe« mit seinem Milchwagen über das Pflaster. Der geschlossene Platz mit seinen lebhaft gegeneinander bewegten Gruppen, die Herren auf der Treppe und der langsam fahrende Wagen, um den sich Neugierige drängten, glich jetzt wirklich jenen Vaudevilles, von denen Père Dugirard liebenswürdig gesprochen hatte. Und wie auf dem Theater änderte sich die Szene plötzlich. »Petit-Singe« brachte Nachricht vom Kriegsschauplatze: »Wissembourg brennt in alle vier Ecke. D' Prussiens kumme üwer d'r Rhin. Alle Kinder nemme sie mit, b'sunders awer d' Büewe. Un selbscht 's Vieh.«
    Ein tauber Zorn kommt in der

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