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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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dampfendes Stück Fleisch aus der Pfanne, verspeiste die heißen Bissen und sah mir zu. Ich unternahm noch einen Anlauf. So ging es wochenlang weiter, bis Meredith zu ihrem monatlichen Besuch erschien. Doch da hatte ich bereits abgenommen.
    Elizabeth lächelte, als ich in die Küche kam.
    »Du bist ja wirklich eine Schönheit«, rief sie aus, ohne ihre Überraschung zu verhehlen. »Das war unter der Ketchupkruste nicht zu erkennen. Fühlst du dich jetzt besser?«
    »Nein«, erwiderte ich, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Ich konnte mich nicht mehr an die letzte Pflegefamilie erinnern, die mir erlaubt hatte, ein Bad zu nehmen. Jackie hatte oben vermutlich eine Badewanne gehabt, aber die erste Etage war für uns Kinder tabu. Davor hatte ich in einer endlosen Reihe kleiner Wohnungen gelebt, mit engen Duschkabinen, vollgestellt mit Kosmetikprodukten und überzogen von Schimmelschichten. Das heiße Bad war angenehm gewesen. Aber als ich Elizabeth nun betrachtete, fragte ich mich, welchen Preis ich wohl dafür würde bezahlen müssen.
    Ich setzte mich auf einen Stuhl an den Küchentisch. Es war genug Essen für eine sechsköpfige Familie aufgefahren. Große Schüsseln mit Nudeln, dicke Schinkenscheiben, Kirschtomaten, grüne Äpfel, Schmelzkäsestapel mit durchsichtiger Plastikfolie zwischen den Scheiben, ja, sogar ein Löffel Erdnussbutter auf einer weißen Stoffserviette. Es war so viel, dass ich es gar nicht zählen konnte. Mein Herz klopfte wie wild. Meine Lippen spannten sich an, und ich presste sie fest zusammen. Elizabeth würde mich sicher zwingen, alles, was auf dem Tisch stand, aufzuessen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich keinen Hunger. Ich sah sie an und wartete auf den Befehl.
    »Essen, das Kinder mögen«, meinte sie und wies schüchtern auf den Tisch. »Habe ich es richtig gemacht?«
    Ich schwieg.
    »Ich denke nicht, dass du großen Hunger hast«, fuhr sie fort, als ihr klarwurde, dass ich nicht antworten würde. »Nicht, wenn dein Nachthemd ein Hinweis darauf ist, womit du den Nachmittag verbracht hast.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Iss nur so viel, wie du willst«, sagte sie. »Aber bleib bei mir am Tisch sitzen, bis ich fertig bin.«
    Im ersten Moment erleichtert, atmete ich auf. Doch als mein Blick zum Tisch wanderte, bemerkte ich einen kleinen Strauß weißer Blüten. Er wurde von einem fliederfarbenen Band zusammengehalten und lag oben auf meiner Nudelschale. Nachdem ich die zarten Blütenblätter gemustert hatte, schnippte ich das Sträußchen von meinem Essen. Mir fielen die Geschichten von Vergiftungen und Krankenhausaufenthalten ein, die mir andere Kinder erzählt hatten. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, um festzustellen, ob die Fenster offen waren, nur für den Fall, dass ich würde fliehen müssen. Die mit weiß lackierten Holzschränken und antiken Geräten ausgestattete Küche hatte nur ein einziges Fenster: ein winziges Quadrat über der Spüle mit einem Fensterbrett, auf dem winzige blaue Glasflaschen aufgereiht waren. Das Fenster war geschlossen.
    Ich wies auf die Blumen. »Sie dürfen mich nicht vergiften, mir gegen meinen Willen Medikamente geben und mich auch nicht schlagen, selbst wenn ich es verdient habe. Das sind die Regeln.« Bei diesen Worten sah ich sie über den Tisch hinweg finster an und hoffte, dass sie die Drohung verstanden hatte. Ich hatte mich mehr als einmal über Schläge von Pflegeeltern beschwert.
    »Wenn ich dich vergiften wollte, würde ich Fingerhut, Hortensie oder vielleicht Anemone nehmen, abhängig davon, wie große Schmerzen ich dir zufügen und welche Botschaft ich dir vermitteln will.«
    Die Neugier siegte über meine Wortkargheit. »Wovon reden Sie?«
    »Diese Blumen nennt man Sternmieren«, erwiderte sie. »Sie bedeuten ›willkommen‹. Indem ich dir einen Strauß Sternmiere schenke, begrüße ich dich in meinem Zuhause und in meinem Leben.« Sie wickelte gebutterte Spaghetti um ihre Gabel und blickte mir bitterernst in die Augen.
    »Für mich sehen sie aus wie Gänseblümchen«, beharrte ich. »Und ich glaube immer noch, dass sie giftig sind.«
    »Sie sind nicht giftig, und es sind auch keine Gänseblümchen. Schau, sie haben nur fünf Blütenblätter, obwohl es aussieht, als hätten sie zehn. Jedes Paar Blütenblätter ist in der Mitte verbunden.« Ich nahm den kleinen weißen Blumenstrauß und untersuchte ihn. Die Blütenblätter wuchsen zusammen, bevor sie mit dem Stengel zusammentrafen, so dass jedes die Form eines Herzens

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