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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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brannte zwischen meinen Beinen und kroch mir die Wirbelsäule hinauf bis ins Genick. Dennoch lief ich weiter. Ich würde wieder da sein, bevor das Baby meine Abwesenheit bemerkte, sagte ich mir. Ich würde es in den Armen halten und mit einem Fläschchen füttern, bis es nach dem tagelangen Stillen endlich satt war.
    Da die Ampel an der Ecke 17. Street und Potrero Street rot war, blieb ich stehen und wartete. Nach Luft ringend, beobachtete ich die Autos und Fußgänger, die in alle Richtungen durcheinanderwimmelten. Ich hörte die Fahrer hupen und schimpfen. Ein Jugendlicher auf einem orangefarbenen Fahrrad von Schwinn sang laut und fröhlich vor sich hin. Ein Hund an einer kurzen Leine knurrte eine kühne Taube an. Doch meine Tochter hörte ich nicht. Obwohl ich einige Straßen von der Wohnung entfernt war, überraschte mich das. Unsere Trennung war so einfach und so erschreckend selbstverständlich vonstattengegangen.
    Mein Herzschlag normalisierte sich wieder, während ich zusah, wie die Ampel von Grün auf Rot und dann erneut auf Grün umsprang. Die Welt drehte sich weiter und befand sich in Bewegung. Niemand achtete auf das schreiende Baby sechs Straßen entfernt. Das Baby, das ich geboren hatte und dessen Schreie ich nicht mehr hören konnte. Das Viertel sah noch genauso aus wie vor ein oder zwei Wochen; es hatte sich überhaupt nichts verändert. Dass mein Leben inzwischen kopfstand, interessierte keinen Menschen, und hier draußen, auf dem Gehweg und weit weg von der Ursache des Tohuwabohus, erschien mir meine Panik übertrieben. Dem Baby ging es gut. Es war satt und konnte warten.
    Bei der nächsten Grünphase überquerte ich die Straße und setzte langsam meinen Weg zum Supermarkt fort. Ich kaufte sechs Dosen Babynahrung, Studentenfutter, zwei Liter Orangensaft und im Imbissladen ein Putensandwich. Dann nahm ich einen Umweg nach Hause und stopfte mir dabei Fäuste voller Mandeln und Rosinen in den Mund. Meine Brüste füllten sich und begannen zu tropfen. Ich würde das Baby noch ein letztes Mal stillen, dachte ich. Zärtlichkeit überbrückte den Abstand, den ich zwischen uns geschaffen hatte.
    Ich ging ins Haus und die Treppe hinauf. Die Wohnung war still und wirkte leer, so dass ich mir im ersten Moment gut vorstellen konnte, ich käme von einer Blumenlieferung zurück und würde jetzt duschen und ein Nickerchen halten. Obwohl meine Schritte auf dem Teppich lautlos waren, wachte das Baby auf, als könne es meine Gegenwart spüren. Es fing an zu schreien.
    Ich hob es aus dem Körbchen und setzte mich mit ihm aufs Sofa. Das Baby versuchte, durch den dünnen durchweichten Baumwollstoff meines T-Shirts zu saugen. Als ich das T-Shirt hochzog, begann es zu trinken. Seine runzeligen Händchen umfassten dabei meinen ausgestreckten Finger, als genüge die Brustwarze in seinem Mund nicht, um zu beweisen, dass ich wirklich vorhanden war. Während das Baby trank, aß ich das Putensandwich. Ein dünnes Scheibchen Putenfleisch fiel mir aus dem Mund, landete auf seiner Schläfe und hob und senkte sich mit jeder verzweifelten Saugbewegung. Ich beugte mich vor, angelte das Putenstück mit den Lippen vom Gesicht meiner Tochter und küsste sie gleichzeitig. Sie öffnete die Augen und sah mich an. Eigentlich hatte ich mit Wut oder Angst gerechnet, doch ich sah nur Erleichterung.
    Ich würde sie nie mehr allein lassen.

10.
    E s war schon dunkel, als ich zu Elizabeth zurückkehrte.
    Beim Anblick des Dämmerscheins, der aus dem Fenster im oberen Stockwerk fiel, stellte ich mir vor, wie sie, dicke Schulbücher vor sich, an meinem Schreibtisch saß und wartete. Noch nie hatte ich das Abendessen verpasst; sie machte sich sicher Sorgen. Nachdem ich die schwere Leinentasche unter den Stufen der hinteren Veranda versteckt hatte, ging ich ins Haus. Die Fliegengittertür quietschte beim Öffnen.
    »Victoria?«, rief Elizabeth die Treppe hinunter.
    »Ja«, antwortete ich. »Ich bin zu Hause.«

11.
    M utter Rubina erschien am Samstag, wie sie es versprochen hatte. Sie setzte sich vor das blaue Zimmer auf den Boden. Ich wandte den Blick ab. Das Gewicht meiner Tat lastete auf mir, und ich war sicher, dass Mutter Rubina mich durchschaute. Eine Frau, die wegen einer Geburt quer durch die Stadt fuhr, bevor sie gerufen wurde, spürte sicherlich auch, wenn ein Baby in Gefahr war. Ich wartete auf ihre Vorwürfe.
    »Gib mir das Baby, Victoria«, sagte sie und bestätigte damit meine Befürchtungen. »Gib sie mir.«
    Ich schob den kleinen

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