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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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Finger zwischen meine Brust und das Zahnfleisch des Babys, wie Mutter Rubina es mir beigebracht hatte. Nachdem sich das Baby von mir gelöst hatte, rieb ich ihm mit dem Daumen den Mund ab, um das angetrocknete Blut von seiner Oberlippe zu entfernen, aber es nützte nichts. Ich reichte das Bündel über die Schulter, ohne mich umzudrehen.
    Mutter Rubina zog es mit einem Seufzer an sich. »Oh, großes Mädchen«, meinte sie. »Ich habe dich vermisst.«
    Ich rechnete damit, dass Mutter Rubina nun aufstehen, zur Tür gehen und meine Tochter mitnehmen würde. Doch ich hörte nur das Geräusch der Waage. »Sechsunddreißig Gramm!«, rief Mutter Rubina begeistert aus. »Hast du deine Mama bei lebendigem Leibe verschlungen?«
    »So ähnlich«, murmelte ich. Aber meine Worte wurden ungehört von den Wänden verschluckt.
    »Komm da raus, Victoria«, befahl Mutter Rubina. »Lass mich dir die Füße massieren oder dir ein überbackenes Käsesandwich machen. Es muss sehr anstrengend sein, sich so gut um ein Baby zu kümmern.« Ich rührte mich nicht. Ich hatte ihr Lob nicht verdient.
    Mutter Rubina streckte die Hand aus und fing an, meine Stirn zu streicheln. »Zwing mich nicht, zu dir zu kommen«, sagte sie. »Du weißt genau, dass ich es tun würde.«
    Ja, das wusste ich. Die Babynahrung, die ich gekauft hatte, der Beweis für mein Verbrechen, lag, noch in der Tüte, auf dem Boden. Ich stieß sie weiter in die Ecke und kroch mit den Füßen zuerst hinaus. Dann setzte ich mich aufs Sofa und wartete darauf, dass Mutter Rubina mir die Wahrheit auf den Kopf zusagte. Aber sie sah mir nicht ins Gesicht. Stattdessen hob sie mein Hemd an und rieb mir die rissigen Brustwarzen mit etwas aus einer lavendelfarbenen Tube ein. Es kühlte und linderte die stechenden Schmerzen.
    »Behalte das«, meinte Mutter Rubina und schloss meine Hand um die Tube. Sie fasste mich am Kinn und schaute mir in die schuldbewusst dreinblickenden Augen. »Kannst du schlafen?«, fragte sie.
    Ich erinnerte mich an die vergangene Nacht. Nachdem ich das Sandwich aufgegessen hatte, hatte ich mich mit dem Baby sofort ins blaue Zimmer zurückgezogen, wo es wieder an meinem Körper andockte und die Augen schloss. Meine Tochter saugte, schluckte und schlief in einem quälenden Kreislauf. Ich ließ sie gewähren und nahm die Schmerzen als Strafe hin. An Schlaf war nicht zu denken.
    »Ja«, log ich. »Ziemlich gut.«
    »Ausgezeichnet«, sagte sie. »Deine Tochter gedeiht prächtig. Ich bin so stolz auf dich.«
    Wortlos starrte ich aus dem Fenster.
    »Hast du Hunger?«, erkundigte sich Mutter Rubina. »Bekommst du genug Hilfe? Soll ich dir etwas kochen, bevor ich gehe?« Ich hatte zwar entsetzlichen Hunger, hätte aber ein weiteres Lob nicht ertragen. Also schüttelte ich den Kopf.
    Mutter Rubina gab mir das Baby zurück und packte die Waage ein. »Nun denn«, meinte sie. Sie musterte mein Gesicht, als suche sie nach Anzeichen meiner Schuld. Ich wandte mich ab. Sie durfte mir nicht auf die Schliche kommen.
    Als sie sich erhob, sprang ich ebenfalls auf und wollte ihr folgen. Plötzlich hatte ich keine Angst mehr, meine Sünde könnte mir ins Gesicht geschrieben stehen. Der Gedanke, dass sie sich verabschieden würde, ohne zu wissen, was ich getan hatte, und ohne etwas zu unternehmen, um mich in Zukunft daran zu hindern, war noch viel schrecklicher. Doch Mutter Rubina lächelte nur, beugte sich vor und küsste mich zum Abschied auf die Wange.
    Ich wollte ihr alles erzählen, beichten und um Vergebung bitten, doch mir fehlten die richtigen Worte. »Es ist schwierig«, war alles, was ich herausbrachte. Mein Flüstern traf ihren Rücken, als sie bereits die Treppe hinunterstieg. Es genügte nicht.
    »Ich weiß, Liebes«, erwiderte Mutter Rubina. »Aber du schaffst das. Du hast das Zeug zu einer guten Mutter.« Sie ging weiter die Treppe hinab.
    Nein, habe ich nicht,
dachte ich verzweifelt. Am liebsten hätte ich ihr entgegengeschrien, dass ich noch nie jemanden geliebt hätte. Sie müsse mir erklären, wie eine Frau, die nicht in der Lage sei, Liebe zu geben, jemals Mutter sein sollte, und überdies eine gute. Allerdings ahnte ich, dass das nicht die Wahrheit war. Ich hatte geliebt. Mehr als einmal. Ich hatte das Gefühl nur nicht als solches erkannt, bis ich alles in meiner Macht Stehende getan hatte, um es zu zerstören.
    Unten an der Treppe blieb Mutter Rubina stehen und drehte sich um. Sie sah so klein und unwissend aus, dass ich mein Vertrauen in sie bereute. Sie war nichts

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