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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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weiter als eine aufdringliche alte Frau, sagte ich mir. In mir legte sich ein Schalter um, und ich spürte, wie das zornige Kind zurückkehrte, das ich einmal gewesen war. Ich wollte nur noch, dass Mutter Rubina verschwand.
    »Name?«, rief sie zu mir hinauf. »Hat das große Mädchen schon einen Namen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Dir fällt schon noch einer ein«, erwiderte Mutter Rubina.
    »Nein«, gab ich barsch zurück. »Mir wird keiner einfallen.«
    Aber Mutter Rubina war bereits zur Tür hinaus.
     
    Nachdem Mutter Rubina fort war, legte ich das Baby in sein Weidenkörbchen, und ein kleines Wunder wollte, dass es den Großteil des Vormittags friedlich schlief. Ich duschte lange und heiß. Da man meine Verzweiflung mit Händen greifen konnte – ein gleichzeitig taubes und prickelndes Gefühl –, schrubbte ich meinen Körper, als handle es sich um ein äußerliches Missempfinden, das sich einfach zum Ausguss hinunterspülen ließ. Als ich aus der Dusche kam, war meine Haut rosig und stellenweise wund gescheuert. Die Verzweiflung hatte sich an einen tieferen, ruhigeren Ort zurückgezogen. Ich tat, als wäre ich sauber und erfrischt, und achtete nicht auf ihr dumpfes beharrliches Surren. Nachdem ich eine weite Hose und ein Sweatshirt angezogen hatte, behandelte ich die wunden Stellen an Armen und Beinen mit der Creme aus der lavendelfarbenen Tube.
    Dann schenkte ich mir ein Glas Orangensaft ein, setzte mich auf den Boden und schaute ins Babykörbchen. Wenn das Baby aufwachte, würde ich es stillen, und wenn es satt war, würden wir einen Spaziergang machen. Ich würde das Körbchen die Treppe hinunter- und zur Tür hinaustragen. Die frische Luft würde uns beiden guttun. Vielleicht würde ich meine Tochter mit in den McKinley Square nehmen und ihr etwas über die Sprache der Blumen beibringen. Sie würde zwar nicht antworten, aber sie würde begreifen. Sie hatte Augen, die mir, sobald sie sie aufschlug, den Eindruck vermittelten, dass sie jedes Wort und auch vieles Unausgesprochene verstand. Es waren hintergründige, geheimnisvolle Augen mit einem Blick, als habe sie noch Verbindung mit jenem Ort, von dem sie gekommen war.
    Je länger das Baby schlief, desto mehr ließ meine Verzweiflung nach, bis ich mir beinahe einreden konnte, ich hätte ihr Gewicht abgeschüttelt. Vielleicht hatte meine kurze Flucht in den Lebensmittelladen ja keine bleibenden Schäden verursacht, und ich war, wie Mutter Rubina behauptete, in der Lage, die mir gestellte Aufgabe zu meistern. Schließlich war es unrealistisch zu erwarten, dass ich die letzten neunzehn Jahre meines Lebens so einfach hinter mir ließ. Es würde Rückfälle geben. Immerhin war ich bis jetzt stets erfüllt von Hass und einsam gewesen. Wie also sollte ich über Nacht lernen, zu lieben und Nähe zu ertragen?
    Ich legte mich neben das Baby auf den Boden und atmete den feuchten Strohgeruch des Körbchens ein. Ich wollte schlafen. Doch noch ehe ich die Augen schließen konnte, wurde der regelmäßige Atem des Babys vom vertrauten Geräusch seines offenen, suchenden Mundes abgelöst.
    Als ich in das Körbchen spähte, sah es mich aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Lippen bewegten sich. Meine Tochter hatte mir die Gelegenheit gegeben zu schlafen – und ich hatte sie nicht genutzt. Nun würde ich stunden- wenn nicht gar tagelang keine zweite Chance bekommen. Ich nahm sie in den Arm. Tränen traten mir in die Augen, und als sich ihre Kiefer um meine Brustwarze schlossen, rannen sie mir über die Wangen. Ich wischte sie mit dem Handrücken weg. Das gnadenlose Saugen an meiner Brust förderte die Verzweiflung wieder aus ihrem Versteck zutage. Sie erhob sich mit einem Zischen wie das leise Rauschen einer Kaurischnecke, der Widerhall von etwas Größerem.
    Das Baby trank eine Ewigkeit. Ich wechselte von einer Seite auf die andere und sah auf die Uhr. Ich stillte nun schon seit einer ganzen Stunde, und sie war erst zur Hälfte fertig. Mein Seufzen verwandelte sich in ein leises Stöhnen, als ihr Mund wieder meine Brustwarze berührte.
     
    Als sie schließlich einschlief, versuchte ich ihr anstelle meiner Brustwarze, die sie mit ihren Lippen immer noch fest umschlossen hielt, meinen kleinen Finger in den Mund zu stecken. Doch sie öffnete ihre müden Augen und fing voller Anklage an zu grunzen.
    »Nun, ich habe genug«, sagte ich ihr. »Ich brauche eine Pause.« Ich legte sie aufs Sofa und streckte mich. Das Grunzen verwandelte sich in leise Schreie. Ich

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