Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
schlaksigen Jugendlichen, der sich ans Heck eines Pick-ups lehnte und einen Rosenstrauß warf.
»Grant.«
Er nickte.
Am liebsten wäre ich weggerannt. So viele Jahre hatte ich damit verbracht, möglichst nicht an das zu denken, was ich getan, und das zu vergessen, was ich verloren hatte. Aber so gern ich auch geflohen wäre, siegte mein Wunsch, zu erfahren, was aus Elizabeth und den Trauben geworden war.
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Sie rochen nach Zucker. Dann flüsterte ich meine Frage durch die Lücken zwischen meinen Fingern, bezweifelte allerdings, dass er antworten würde: »Elizabeth?«
Er schwieg. Ich beobachtete ihn durch die Ritzen meiner Hände. Anders als erwartet, wirkte er nicht zornig, sondern bestürzt. Als er an einem Haarbüschel oberhalb seines Ohrs zupfte, spannte sich seine Kopfhaut. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit …«
Er hielt inne, schaute aus dem Fenster und blickte mich an. Ich ließ die Hände sinken und wartete auf seine Wut. Er schien immer noch bedrückt. Das Schweigen zwischen uns war dick wie eine Wand.
»Warum hast du mich hierher eingeladen?«, erkundigte ich mich schließlich. »Warum wolltest du mich sehen, nach allem, was passiert ist.«
Grant pustete Luft aus. Seine angespannten Augenbrauen lockerten sich. »Ich habe befürchtet, du könntest das Gleiche sagen.«
Er leckte einen Finger ab. Das Neonlicht spiegelte sich in seinen Augen und fing sich in den Bartstoppeln auf seinem Kinn. Da ich meine Jugend in ausschließlich von Frauen bevölkerten Betreuungseinrichtungen verbracht hatte und nur gelegentlich einem männlichen Therapeuten oder Lehrer begegnet war, war ich Männer nicht gewohnt. Außerdem konnte ich mich nicht erinnern, je so nah bei einem Mann gesessen zu haben, der so jung und gutaussehend war. Grant war vollkommen anders als das, was ich kannte: die Größe seiner Hände, die schwer auf dem Tisch lagen, und seine dunkle, leise Stimme, die in das lange Schweigen zwischen uns hineinhallte.
»Hat deine Mutter es dir beigebracht?«, fragte ich und wies auf die verstreuten Disteln.
Er nickte. »Aber sie ist vor sieben Jahren gestorben. Dein Rhododendron war die erste Blume mit einer Botschaft, die ich seitdem bekommen habe. Ich habe mich gewundert, dass ich die Bedeutung noch wusste.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Das mit deiner Mutter.« Obwohl meine Worte nicht von Herzen kamen, schien Grant das nicht zu bemerken. Er zuckte die Achseln.
»Hast du es von Elizabeth?«, erkundigte er sich.
Ich nickte. »Sie hat mir erklärt, was sie wusste«, fügte ich hinzu. »Allerdings hat sie nicht alles gewusst.«
»Was soll das heißen?«
»Die Sprache der Blumen ist nicht verhandelbar, Victoria«,
entgegnete ich und machte dabei Elizabeths strengen Tonfall nach. »Allerdings habe ich heute in der Bibliothek erfahren, dass die Mandelblüte drei einander widersprechende Bedeutungen hat.«
»Indiskretion.«
»Ja. Und nein.« Ich berichtete Grant, dass die Silberpappel nicht in meinem Wörterbuch aufgeführt sei, von meinem Besuch in der Bibliothek und der gelben Rose.
»Eifersucht«, meinte Grant, als ich die kleine Abbildung auf dem Bucheinband schilderte.
»Genau das stand da«, erwiderte ich. »Aber ich habe es nicht so gelernt.« Ich verspeiste den letzten Donut, leckte mir die Finger ab, holte mein abgewetztes Wörterbuch aus dem Rucksack, schlug es bei R auf, suchte die Seite nach Rose, gelb, ab und zeigte darauf.
»Untreue.« Seine Augen weiteten sich. »Hoppla.«
»Das ändert alles, richtig?«
»Ja«, sagte er. »Das ändert alles.«
Er griff in seinen Rucksack und förderte ein Buch mit rotem Stoffeinband und grünen Seitenkanten zutage. Nachdem er ebenfalls die Seite mit den gelben Rosen aufgeschlagen hatte, legte er die Wörterbücher nebeneinander.
Eifersucht. Untreue
. Dieser simple Unterschied und die Art und Weise, wie er unser beider Leben beeinflusst hatte, hing zwischen uns in der Luft. Vielleicht kannte Grant die Einzelheiten. Ich nicht, aber ich hakte auch nicht nach. Mit ihm zusammen zu sein genügte. Ich hatte nicht das Bedürfnis, weiter in der Vergangenheit zu wühlen.
Grant erging es in dieser Hinsicht offenbar ähnlich. Er klappte den leeren Donutkarton zu und steckte sein Wörterbuch wieder ein. »Hast du Hunger?«, fragte er.
Ich hatte immer Hunger. Doch wichtiger war, dass ich mich noch nicht von ihm verabschieden wollte. Grant war mir nicht böse. Seine Gegenwart war wie
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