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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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wie mir geschah, lag ich bäuchlings auf dem Fußboden der Bibliothek. Die Bücher waren in einem Halbkreis um mich verstreut. Je länger ich las, desto stärker wurde mein Gefühl, dass mein Verständnis vom Universum als solchem mir entglitt. Akelei symbolisierte nicht nur
im Stich lassen
, sondern auch
Narrheit
. Mohnblume:
Phantasie
und
Extravaganz
. Mandelblüte, in Elizabeths Wörterbuch das Sinnbild der
Indiskretion,
wurde in anderen Büchern im Zusammenhang mit
Hoffnung
und manchmal sogar mit
Gedankenlosigkeit
erwähnt. Die Definitionen unterschieden sich nicht nur, sie widersprachen sich sogar häufig. Selbst die Gemeine Distel – mein liebstes Kommunikationsmittel – stand nur für
Misanthropie,
wenn sie nicht mit
Kargheit
in Verbindung gebracht wurde.
    Mit der Sonne stieg auch die Temperatur in der Bibliothek. Am Nachmittag schwitzte ich und wischte mir mit einer feuchten Hand die Stirn ab, wie um Erinnerungen aus einem übervollen Verstand zu vertreiben. Ich hatte Meredith Pfingstrosen geschenkt:
Wut,
aber auch
Scham
. Mich zu dieser Scham zu bekennen war das Höchste, was ich mir an Entschuldigung erhoffen konnte. Meredith hätte das Recht gehabt, mich mit Pfingstrosen nur so zu überschütten, meine Bettdecken mit Pfingstrosen zu besticken und mir mit Pfingstrosen dekorierte Kuchen zu backen. Wenn man eine Pfingstrose so missverstehen konnte, wie oft hatte ich dann wohl wie vielen Menschen etwas Falsches mitgeteilt? Beim bloßen Gedanken drehte es mir den Magen um.
    Meine Botschaft an den Blumenhändler war eine gefährliche Unbekannte. Rhododendron wurde zwar in sämtlichen Nachschlagewerken eindeutig als
Warnung
interpretiert. Doch wahrscheinlich waren noch Hunderte, wenn nicht Tausende anderer Wörterbücher im Umlauf. Also war es unmöglich, herauszufinden, wie er meine Nachricht gedeutet hatte oder was er nun dachte, während er in dem Donut-Café saß. Es war nach fünf. Sicher wartete er und beobachtete die Tür.
    Ich musste los. Ich ließ die Bücher verstreut auf dem Boden liegen, hastete vier Stockwerke hinunter und trat in das dämmrige San Francisco hinaus.
     
    Als ich das Café erreichte, war es fast sechs Uhr. Aber ich wusste, dass er noch dort sein würde. Ich öffnete die doppelflüglige Glastür und sah ihn allein an einem Tisch sitzen. Er hatte einen rosafarbenen Karton mit sechs Donuts vor sich.
    Ich ging auf den Tisch zu, nahm aber nicht Platz.
    »Rhododendron?«, fragte ich fordernd, wie Elizabeth es früher getan hatte.
    »Warnung.«
    »Mistelzweig?«
    »Ich überwinde alle Hürden.«
    Ich nickte. »Löwenmaul?«, fuhr ich fort.
    »Anmaßung.«
    »Silberpappel?«
    »Zeit.«
    Wieder nickte ich und verteilte die unterwegs gesammelten Disteln vor ihm auf dem Tisch.
    »Gemeine Distel«, sagte er. »Misanthropie.«
    Ich setzte mich. Er hatte meine Prüfung bestanden. Meine Erleichterung war jedoch trotz der fünf richtigen Antworten übertrieben. Plötzlich hungrig, nahm ich einen Donut mit Ahornsirupgeschmack aus der Schachtel. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
    »Warum Distel?«, fragte er und entschied sich für einen, der mit Creme gefüllt war.
    »Darum«, entgegnete ich zwischen zwei großen Bissen. »Mehr brauchst du über mich nicht zu wissen.«
    Er verspeiste seinen Donut und machte sich an den nächsten. Dann schüttelte er den Kopf. »Unmöglich.«
    Ich griff nach einem Donut mit Glasur und einem mit Streuseln und legte sie auf eine Serviette. Er aß so schnell, dass ich befürchtete, die Schachtel könnte leer sein, ehe ich mit dem ersten fertig war.
    »Also, was willst du?«, erkundigte ich mich mit vollem Mund.
    Er hielt inne und sah mir in die Augen.
    »Wo warst du in den letzten acht Jahren?«
    Die Frage verschlug mir die Sprache.
    Ich hörte auf zu kauen und versuchte zu schlucken, aber ich hatte zu viel auf einmal in den Mund gesteckt. Also spuckte ich eine braune Kugel auf die Serviette und schaute auf.
    Im nächsten Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Erkenntnis erschreckte mich nicht nur, weil sie auf der Hand lag, sondern weil wir uns tatsächlich wieder über den Weg gelaufen waren. Ich konnte nicht fassen, dass ich nicht sofort gewusst hatte, wer der Junge war, der sich in diesem Mann verbarg. Sein Blick war noch immer eindringlich und furchtsam. Sein Körper war kräftiger geworden, aber er zog noch immer, wie zum Schutz, die Schultern nach vorne. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, einen

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