Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
gleich gehen würde.
Ich ließ die Arme sinken. Die Blumentöpfe rutschten im Zeitlupentempo von meinem Schoß und blieben neben meinen Oberschenkeln auf dem steilen Gehweg liegen. Grants Hände wanderten zu meinen Knien. Ich griff danach, hob sie an mein Gesicht und presste sie mir an Lippen, Wangen und Augenlider. Dann schlang ich sie um meinen Nacken und zog ihn an mich. Unsere Stirnen berührten sich. Ich schloss die Augen, und im nächsten Moment berührten sich unsere Lippen. Seine waren voll und weich, obwohl seine Oberlippe kratzte. Als er den Atem anhielt, küsste ich ihn wieder, diesmal heftiger. Hungrig. Auf den Knien rutschte ich den Hügel hinauf und stieß dabei die Töpfe um, um Grant näher zu sein, ihn fester zu küssen und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn vermisst hatte.
Als wir uns endlich atemlos voneinander lösten, war ein Topf bis zum Fuß des Hügels hinuntergerollt. Die hoch aufgerichteten geraden Blüten leuchteten in der Wintersonne beinahe blendend gelb.
Vielleicht irrte ich mich ja, dachte ich, während ich zusah, wie sie in dem leichten Wind schwankten. Vielleicht war die Bedeutung jeder Blume tatsächlich irgendwo in ihrem kräftigen Stengel und der Anordnung weicher Blütenblätter enthalten.
Ich wusste, dass Annemarie mit den Jonquille zufrieden sein würde.
14.
I ch saß auf der Veranda und sortierte den Haufen winziger weißer Kamillenblüten zu meinen Füßen. Zwischen mir und Elizabeth verlief eine einen Meter fünfzig lange Schnur, die an jedem Ende mit einer Nadel versehen war. Wir arbeiteten schnell, spießten schwammige gelbe Blütenherzen auf und schoben die Blumen in Richtung Mitte.
Immer wieder hielt ich, abgelenkt von einem Insekt oder einem Holzsplitter, inne. Doch Elizabeths Hände bewegten sich stetig. Nach einer Stunde waren wir fertig. Eine zarte Kette aus Blütenblättern verband uns.
»Bedeutung?«, fragte ich. Elizabeth beugte sich vor und fädelte einen viereckigen Zettel am Ende der Kette auf. Ich erhaschte einen Blick auf das Wort
August
und die Zahl Zwei und dazu immer wieder auf das Wort
bitte
und einen Satz, der mir unwahr erschien:
Ich schaffe das nicht ohne dich
.
Elizabeth rollte die Blumenkette zusammen. »Kraft angesichts widriger Umstände.«
Nichts hätte ihren Gemütszustand besser beschrieben. Seit Elizabeth beschlossen hatte, ihrer Schwester eine Blumenbotschaft zukommen zu lassen, war sie ständig in Bewegung. Sie säte, goss, überprüfte die Fortschritte halbgeöffneter Knospen und wartete – ein Warten, das eigentlich eine von Anspannung erfüllte Tätigkeit war – auf eine Antwort.
»Komm mit«, sagte Elizabeth, stieg in den Pick-up und legte die zusammengerollte Blumenkette zwischen uns.
Wir fuhren zu Catherine. Elizabeth ließ den Motor laufen, als sie aus dem Auto sprang, die Blumen um den Holzpfosten des Briefkastens wickelte und den Zettel hineinsteckte. Dann stieg sie wieder ein, und wir entfernten uns weiter vom Weinberg.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»Einkaufen«, erwiderte Elizabeth. Da ihr der Wind das Haar ins Gesicht blies, fasste sie es rasch mit einem Gummiband zusammen und lenkte den Wagen dabei mit den Knien. Sie warf mir einen spitzbübischen Blick zu.
»Wo?«, fragte ich verwundert. Etwa anderthalb Kilometer entfernt gab es eine Gemischtwarenhandlung, in der Elizabeth einen Regenmantel und Gartenschuhe für mich erstanden hatte, doch die befand sich in der entgegengesetzten Richtung.
»Chestnut Street«, erwiderte sie. »San Francisco. Dort wimmelt es von Kinderboutiquen. Solche, in denen man zweihundert Dollar teure Jogginganzüge aus Velours für Neugeborene kaufen kann. Kleinmädchenkleider aus Seide und Organza und so weiter und so fort. Das Kleid für deine Adoption wird mich mehr kosten, als ich für zwei Tonnen Trauben bekomme. Aber wann, wenn nicht jetzt? Immerhin bist du schon zehn. Nächste Woche wirst du
mein
kleines Mädchen sein, doch du bleibst nicht mehr lange klein. Also muss ich dich hübsch anziehen, solange ich noch kann.« Wieder lächelte sie mich einladend an.
Während wir weiterfuhren, rutschte ich näher an sie heran und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Sie hatte mir beigebracht, im Auto gerade und mit Abstand zu ihr zu sitzen, damit wir nicht wegen Verstoßes gegen die Anschnallpflicht angehalten wurden. Doch heute sagte mir ihr Lächeln, dass es eine Ausnahme war. Sie hatte eine Hand am Lenkrad, den anderen Arm legte sie um meine Schulter und drückte mich an sich. Noch nie
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