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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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hatte jemand mit mir neue Kleider eingekauft. Kein einziges Mal, und mir erschien es wie ein wundervoller Aufbruch in ein Leben als Tochter. Auf dem Weg über die Brücke in die Stadt summte ich die Schlager im Radio mit. Dabei tobten widerstreitende Gefühle in mir, denn ich wollte, dass dieser Tag niemals endete. Dann wieder wünschte ich mir, er und auch die beiden nächsten würden so schnell wie möglich vorbeigehen. Bis zu meinem Gerichtstermin waren es nur noch drei Tage.
    In der Chestnut Street parkte Elizabeth den Wagen, und ich folgte ihr durch eine offene Tür. Bis auf die Verkäuferin, die hinter einer gläsernen Theke stand und mit Diamanten verzierte Ohrclips auf einer Filzfläche in Baumform drapierte, war der Laden leer.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und lächelte mich, wie ich glaubte mit ehrlichem Interesse, an. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
    »Ja«, erwiderte Elizabeth. »Etwas für Victoria.«
    »Und wie alt bist du, Schätzchen? Sieben? Acht?«
    »Zehn«, entgegnete ich.
    Die Verkäuferin wirkte verlegen, doch ich war nicht gekränkt. »Man hat mich gewarnt, bloß nicht zu schätzen«, antwortete sie. »Dann wollen wir mal sehen, was wir in deiner Größe haben.« Ich ging mit ihr in den hinteren Teil des Ladens, wo eine Reihe von Kleidern gegenüber einem Spiegel mit einer Ballettstange hing. Elizabeth umfasste die Stange und ging mit einer übertriebenen Geste in die Hocke. Ihre Knie beugten sich tief, und ihre Zehen zeigten nach außen. Sie war zwar mager und knochig wie eine klassische Ballerina, aber nicht annähernd so anmutig. Wir lachten beide.
    Ich schaute die Kleider erst ein Mal, dann ein zweites Mal durch. »Wenn nichts für dich dabei ist, gibt es auch noch andere Läden«, sagte Elizabeth hinter mir.
    Das war nicht das Problem. Mir gefielen alle Kleider, jedes einzelne. Meine Hand verharrte auf den Samtbändern eines ärmellosen Kleides. Ich nahm es vom Ständer und hielt es mir an. Obwohl es nur Größe 128 war, reichte es mir bis über die Knie. Das hellblaue Oberteil war mit einem braunen Samtband vom gemusterten Rock abgesetzt, das im Rücken zu einer Schleife gebunden wurde. Es war das Muster des ausgestellten Rocks, das mich angezogen hatte: erhabene braune Samtblumen auf einem blauen Grund. Die konzentrischen Blütenblätter erinnerten mich an Rosenblüten oder Chrysanthemen. Ich warf Elizabeth einen Blick zu.
    »Probier es an«, forderte sie mich auf.
    Ich zog mich in der Umkleidekabine aus. Als ich in meiner weißen Baumwollunterhose vor dem Spiegel stand, setzte Elizabeth sich hinter mich. Ich betrachtete meinen blassen Körper mit der hellen, makellosen Haut, der geraden Taille und den schmalen Hüften. Elizabeth musterte mich mit einem solchen Stolz, wie es meiner Vorstellung nach eine Mutter bei ihrer leiblichen Tochter tat, deren Gliedmaßen in ihrem Körper entstanden waren.
    »Arme hoch«, sagte sie. Nachdem sie mir das Kleid übergestreift hatte, band sie die Schleifen des Oberteils in meinem Nacken und die zweite Schleife um die Taille zu.
    Das Kleid passte ausgezeichnet. Die Arme steif zu beiden Seiten des bauschigen Rocks ausgestreckt, sah ich mich im Spiegel
     an.
    Als mein Blick den von Elizabeth traf, waren so viele Gefühle in ihrem Gesicht zu sehen, dass ich nicht wusste, ob sie gleich lachen oder weinen würde. Sie zog mich an sich, schob die Arme unter meine Achselhöhlen und verschränkte die Hände vor meiner Brust. Mein Hinterkopf presste sich gegen ihren Bauch.
    »Schau dich nur an«, meinte sie. »Mein Baby.« Und in diesem Moment entsprachen ihre Worte in gewisser Weise der Wahrheit. Ich hatte den unbestimmbaren Eindruck, ein ganz kleines Kind, ja, sogar ein Neugeborenes zu sein, das Elizabeth geborgen und fest im Arm hielt. Es war, als ob meine bisherige Kindheit jemand anderem gehörte, einem Mädchen, das es nicht mehr gab. Das Mädchen im Spiegel war an seine Stelle getreten.
    »Catherine wird begeistert von dir sein«, flüsterte Elizabeth. »Du wirst sehen.«

15.
    V or Beginn der Hochzeitssaison stellte Renata mich fest an. Sie gab mir die Wahl zwischen Sozialleistungen oder einem Bonus – beides war nicht möglich. Da ich kerngesund war und es satthatte, mich von Grant zur Gärtnerei und wieder zurück fahren zu lassen, nahm ich das Bargeld.
    Der Schlagzeuger von Natalyas Band verkaufte mir seinen alten Kombi. Sein neues Schlagzeug – das mir um einiges lauter zu sein schien als sein Vorgänger – passte nicht ins Auto.

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