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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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Und ich möchte dich beim Aufwachen nicht neben mir vorfinden. Sonst fahre ich sofort nach Hause.«
    »Das wirst du nicht«, antwortete Grant. »Versprochen.«
    In jener Nacht lag ich wach auf dem Sofa und versuchte, nicht vor Grant einzuschlafen, aber er war ebenfalls wach. Ich hörte, wie er sich eine Etage über mir herumwälzte, die Decke zurechtzupfte und dabei einen Bücherstapel umwarf. Schließlich, es hatte lange Stille geherrscht, und ich war sicher, dass er nun schlief, klopfte es leise an die Zimmerdecke.
    »Victoria?«, wehte ein Flüstern die Wendeltreppe hinunter.
    »Ja?«
    »Gute Nacht«, sagte er.
    »Gute Nacht.« Ich lächelte in den orangefarbenen Velours hinein.
     
    Nach einer ganzen mit Jonquille verbrachten Saison war Annemarie ein anderer Mensch geworden. Jeden Freitagmorgen holte sie sich einen neuen Strauß. Ihre Haut war rosiger, ihr Körper, endlich befreit vom gegürteten Mantel, zeigte Kurven unter dem dünnen Baumwollpulli. Sie erzählte mir, Bethany sei für einen Monat mit Ray nach Europa gereist und würde verlobt zurückkommen. Das verkündete sie mit einer solchen Gewissheit, als wäre es bereits eine Tatsache.
    Annemarie brachte ihre Freundinnen mit, viele mit kleinen Mädchen in Rüschenkleidchen, und alle lebten in enttäuschenden Ehen. Sie lehnten an der Theke, während ihre Kinder Blumen, größer als sie selbst, aus den Eimern zogen und im Laden umherwirbelten. Unterdessen erörterten die Mütter ihre Beziehungen in allen Einzelheiten und versuchten, ihre Probleme in ein einziges Wort zu fassen. Nachdem ich ihnen erklärt hatte, wie wichtig es sei, sich genau auszudrücken, hingen sie an meinen Lippen. Die Gespräche waren gleichzeitig traurig, amüsant und auf merkwürdige Weise erfüllt von Hoffnung. Mir war es rätselhaft, wie beharrlich diese Frauen versuchten, ihre Ehen zu retten. Ich verstand nicht, warum sie nicht einfach gingen.
    Ich wusste, dass ich in ihrem Fall losgelassen hätte: den Mann, das Kind und auch die Frauen, mit denen ich darüber redete. Allerdings verschaffte mir dieser Gedanke zum ersten Mal im Leben keine Erleichterung. Immer stärker wurde mir klar, wie ich mich isolierte. Da waren erst einmal die offensichtlichen Dinge, zum Beispiel, dass ich in einem Wandschrank mit sechs Schlössern wohnte. Doch es gab auch verdecktere, wie die Tatsache, dass ich bei der Arbeit Renata stets am Tisch gegenübersaß oder mich im Gespräch mit den Kunden hinter die Kasse stellte. Wenn es möglich war, verschanzte ich meinen Körper hinter Mauern, massiven Holzmöbeln oder schweren Metallteilen.
    Nur Grant war es auf unerklärliche Weise und mit viel Fingerspitzengefühl innerhalb von sechs Monaten gelungen, diesen Schutzwall zu durchbrechen. Ich gestattete ihm nicht nur, mich zu berühren, ich sehnte mich sogar danach, und allmählich fragte ich mich, ob ich vielleicht noch eine Chance hatte, mich zu verändern. Ich schöpfte Hoffnung, dass mein übliches Verhaltensmuster, einfach davonzulaufen, etwas war, aus dem man herauswuchs wie aus der kindlichen Abneigung gegen scharf gewürzte Speisen.
    Ende Mai war mein Wörterbuch beinahe fertig. Ich fotografierte viele der verbleibenden seltenen Pflanzen im Conservatory of Flowers im Golden Gate Park. Nachdem ich jedes Foto entwickelt, aufgeklebt und beschriftet hatte, markierte ich mein Wörterbuch mit Xen und blätterte die Seiten durch, um festzustellen, wie viele Blumen noch fehlten. Es war nur eine: die Kirschblüte. Ich ärgerte mich über meine eigene Nachlässigkeit, weil ich sie vergessen hatte. In der Bay Area gab es genug Kirschbäume, allein im Japanese Tea Garden standen Dutzende von Arten. Allerdings war ihre Blütezeit kurz – abhängig vom Jahr dauerte sie nur wenige Wochen oder gar Tage –, und ich war im Frühling zu abgelenkt gewesen, um ihren flüchtigen Moment der Schönheit festzuhalten.
    Grant würde sicher wissen, wo man selbst jetzt, so lange nach der Saison, eine Kirschblüte fand. Ich schrieb den Namen der einzigen noch fehlenden Pflanze auf einen Zettel und klebte ihn außen an die orangefarbene Box. Es war Zeit, sie ihm zu bringen.
    Ich stellte die Box auf den Rücksitz meines Autos und schnallte sie an. Da es Sonntag war, traf ich am Wasserturm ein, bevor Grant vom Bauernmarkt zurückkehrte. Ich öffnete die Tür mit dem Ersatzschlüssel, machte den Schrank auf und nahm mir einen Laib Rosinenbrot. Die Box, die grell orangefarben auf dem verwitterten Küchentisch stand, brauchte mehr

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