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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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zurückgekehrt. Renata gab mir eine Woche frei. Ich verschanzte mich in meinem blauen Zimmer und kam nur heraus, um etwas zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Immer wenn ich aus meiner niedrigen Tür kroch, stand ich vor der orangefarbenen Fotobox und wurde von dem nicht greifbaren Gefühl erfasst, etwas verloren zu haben.
    Renata hatte gesagt, ich müsse erst am nächsten Sonntag wieder arbeiten. Doch am Samstagnachmittag klopfte es an der Tür. Als ich den Kopf heraussteckte, war es Natalya, noch im Pyjama und sichtlich ungehalten.
    »Renata hat angerufen«, meldete sie. »Sie braucht dich. Du sollst duschen und so schnell du kannst kommen.«
    Duschen? Das war ein seltsames Anliegen. Wahrscheinlich wollte Renata, dass ich sie zu einer Lieferung begleitete, und ging ganz richtig davon aus, dass ich den Großteil der Woche schlafend und ungewaschen verbracht hatte.
    Ich ließ mir beim Duschen Zeit, seifte mich ein, wusch mir die Haare, putzte mir die Zähne und spülte mit Wasser nach, das so heiß war, wie ich es gerade noch aushielt. Als ich mich abtrocknete, war meine Haut rot und fleckig. Dann zog ich meine besten Sachen an: eine schwarze Stoffhose und eine weiche weiße Bluse, deren Vorderseite gefältelt war wie bei einem altmodischen Frackhemd. Bevor ich das Bad verließ, schnitt ich mir langsam und ordentlich die Haare und pustete mir die Haarschnipsel mit dem Föhn von der Bluse.
    Als ich mich dem Flora näherte, sah ich eine bekannte Gestalt, einen offenen Pappkarton auf dem Schoß, am menschenleeren Randstein sitzen. Grant. Deshalb also hatte Renata angerufen. Ich blieb stehen und betrachtete sein ernstes und angespanntes Profil. Er drehte sich zu mir um und erhob sich.
    Wir gingen aufeinander zu. Unsere kleinen Schritte passten sich aneinander an, bis wir die Mitte des steilen Hügels erreicht hatten. Grant ragte über mir auf. Wir waren noch so weit voneinander entfernt, dass ich den Inhalt des Kartons, den er unter dem Kinn hielt, nicht erkennen konnte.
    »Du siehst hübsch aus«, sagte er.
    »Danke.« Ich hätte das Kompliment gern erwidert, nur dass es nicht gestimmt hätte. Er hatte den ganzen Vormittag gearbeitet, das erkannte ich an der Erde an seinen Knien und dem frischen Schlamm an seinen Stiefeln. Außerdem roch er, nicht nach Blumen, sondern wie ein schmutziger Mann: Schweiß, Rauch und Erde zu gleichen Teilen.
    »Ich habe mich nicht umgezogen«, meinte er, als würde ihm sein Zustand jetzt erst klar. »Ich hätte es tun sollen.«
    »Spielt keine Rolle«, erwiderte ich. Eigentlich hatte ich das freundlich gemeint, aber es klang eher wegwerfend. Enttäuschung malte sich auf Grants Gesicht, und ich spürte, wie Zorn in mir aufstieg (nicht auf Grant, sondern auf mich selbst, weil es mir nie gelang, den richtigen Ton zu treffen). Ich trat einen Schritt näher an ihn heran. Eine verlegene Geste der Entschuldigung.
    »Ich weiß«, sagte er. »Ich bin nur hier, weil ich dachte, dass du sie brauchst – für deine Freundin.« Er ließ den Karton sinken. Darin befanden sich die sechs Tontöpfe mit Jonquille. Die gelben Blüten ragten hoch empor und öffneten sich in biegsamen Büscheln. Sie verströmten einen berauschend süßen Duft.
    Ich streckte die Hände aus, griff nach den Töpfen und versuchte, alle sechs gleichzeitig herauszuholen. Ich wollte in den Farben versinken. Grant hielt den Karton ein Stück tiefer, und nach einem sanften Tauziehen gelang es mir, die sechs Töpfe anzuheben. Ich vergrub mein Gesicht in den Blütenblättern. Einen Moment hatte ich sie fest im Griff, doch dann rutschten mir die mittleren beiden aus den Armen. Die Töpfe zerschellten auf dem Gehweg, die Zwiebeln lagen nackt da, und die Stengel bogen sich. Grant fiel auf die Knie und fing an, die Blumen aufzuheben.
    Ich drückte die restlichen vier Töpfe an mich, und zwar so, dass ich beobachten konnte, wie er sich über die Blütenblätter beugte. Seine kräftigen Hände umfassten die Zwiebeln, glätteten die Stengel und wickelten lange, spitze Blätter um die Stellen, die unter dem Sturz gelitten hatten.
    »Wo soll ich sie hinlegen?«, fragte er und blickte auf.
    Ich kniete mich neben ihn.
    »Hierher«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Blumen in meinen Armen. Er teilte die Büschel und legte die nackten Zwiebeln auf die Erde, so dass sich die abgeknickten Blumen zwischen die anderen schmiegten. Seine Hände ruhten weiter auf den Blumen. An seinen langsamen, regelmäßigen Atemzügen erkannte ich, dass er

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