Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Dach war lang – es reichte über einen ganzen Häuserblock – und von einer niedrigen Betonmauer umgeben. Jenseits der Mauer erstreckte sich die Stadt vom Zentrum bis zur Bay Bridge und nach Berkeley. Sie erinnerte mich an ein Gemälde, und die über die Schnellstraßen gleitenden Rücklichter der Autos sahen aus wie verschwommene rote Pigmentstreifen. Ich ging zur Dachkante, setzte mich, atmete die Schönheit ein und vergaß für einen Moment, dass sich mein Leben bald von Grund auf verändern würde. Schon wieder.
Meine Fingerkuppen wanderten vom Hals bis zum Nabel. Mein Körper gehörte nicht mehr mir. Er war von einem Mitbewohner übernommen worden. Ich hatte das nicht so gewollt, aber mir blieb nichts anderes übrig. Das Baby würde in mir wachsen. Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Ich konnte unmöglich in eine Klinik gehen, mich ausziehen und mich nackt vor fremde Leute hinstellen. Eine Narkose, Bewusstlosigkeit, während ein Arzt alles Mögliche mit meinem Körper anstellte, wäre ein unvorstellbarer Übergriff gewesen. Also würde ich das Baby bekommen und dann entscheiden, was ich damit machen würde.
Ein Baby. Ich wiederholte das Wort ein ums andere Mal und wartete auf Wärme oder irgendein Gefühl, empfand aber nichts. Doch trotz meiner Lähmung stand eines absolut fest: Grant durfte es niemals erfahren. Die Begeisterung in seinem Blick und seine Vorfreude darauf, eine Familie mit mir zu gründen, hätte ich nicht ertragen. Die Szene stand mir deutlich vor Augen: Ich saß am Picknicktisch und wartete darauf, dass Grant Platz nahm, damit ich die Worte hervorstoßen konnte, die unser Leben auf den Kopf stellen würden. Bevor das Wort
Baby
heraus war, fing ich zu weinen an, doch er hatte verstanden. Und er wollte es. Seine strahlenden Augen waren der Beweis seiner Zuneigung zu dem ungeborenen Kind, während meine Tränen zeigten, dass ich mich nicht zur Mutter eignete. Das Wissen, dass ich ihn enttäuschen würde (und die Ungewissheit, wann und auf welche Weise), löste in mir das Bedürfnis aus, vor seiner Freude und seinen Liebesgeständnissen zu fliehen.
Deshalb musste ich schnell und unbemerkt verschwinden, bevor er dahinterkam, warum ich ging. Es würde ihm weh tun, allerdings nicht so sehr, wie wenn er hilflos zusehen müsste, wie ich meine Sachen packte und ihm für immer sein Kind wegnahm. Das Leben, das er sich mit mir wünschte, war nicht möglich.
Also war es besser, wenn er niemals erfuhr, dass es beinahe dazu gekommen wäre.
20.
U m vier Uhr nachmittags lag Elizabeth noch immer im Bett. Ich saß am Küchentisch und angelte mit dem Daumen Erdnussbutter aus dem Glas. Ich hatte überlegt, ob ich Elizabeth ein Abendessen kochen sollte. Hühnersuppe oder Chili oder etwas anderes, das verlockend duftete. Doch bis jetzt beherrschte ich nur Nachspeisen: Brombeerpudding, Pfirsichkuchen und Mousse au Chocolat. Eine Nachspeise ohne Hauptgericht zu essen erschien mir nicht richtig, insbesondere nicht an einem Tag wie diesem, weil wir rein gar nichts zu feiern hatten.
Gerade räumte ich die Erdnussbutter weg und fing an, in der Speisekammer herumzukramen, als ich von einem Klopfen aufgeschreckt wurde. Ich brauchte nicht aus dem Fenster zu schauen, um festzustellen, wer es war. Ich hatte dieses Klopfen schon oft genug im Leben gehört, so dass ich es auf Anhieb erkannte: Meredith. Sie klopfte lauter. Noch eine Minute, und sie würde versuchen, die Tür zu öffnen, die nicht abgeschlossen war. Ich versteckte mich in der Speisekammer. Das Geräusch der zugeknallten Eingangstür hallte in die Dunkelheit. Die Bohnen und der Reis auf den Regalen klapperten in ihren Dosen.
»Elizabeth?«, rief Meredith. »Victoria?« Sie ging durchs Wohnzimmer in die Küche. Ihre Schritte umrundeten den Tisch und verharrten vor dem Fenster über der Spüle. Mit angehaltenem Atem stellte ich mir vor, wie ihr Blick über die belaubten Reben schweifte und nach Bewegung Ausschau hielt. Doch sie würde nichts dergleichen sehen. Carlos unternahm mit Perla ihren jährlichen Campingausflug. Schließlich hörte ich, wie sie sich umdrehte und die Treppe hinaufstieg. »Elizabeth?«, rief sie wieder. Und dann etwas gedämpfter: »Elizabeth? Fehlt Ihnen etwas?«
Ich schlich die Treppe hinauf, blieb auf der obersten Stufe stehen und drückte mich eng an die Wand, um nicht bemerkt zu werden.
»Ich ruhe mich aus«, erwiderte Elizabeth leise. »Ich muss mich nur ein wenig ausruhen.«
»Ruhe?«, fragte Meredith. Etwas an Elizabeths
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