Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
weiteres
Portal, durch das eine Priesterin den Raum betrat. Ihre Gestalt umhüllte ein schwacher, grünlicher Schein. Sie trug ein langes, einfaches Kleid und ihr strohblondes, langes Haar hing offen über die Schultern herab. Ihre hellgrünen Augen funkelten wie die Smaragde ihres Diadems.
»Beeile dich, Priesterin!«, drängte der Ritter. »Wir können ihn nicht mehr lange festhalten!«
Die Frau trat zu dem wehrlosen Boten und hielt einen blühenden, grünen Zweig über seinen Kopf.
»Nein!«, flüsterte Lubomir. »Tu es nicht, Wseslawa!«
Seine Wunde blutete jetzt wieder stärker.
»Als Priesterin des Grünen Hofs rufe ich die Macht des Regenbrunnens zurück, die der Bote usurpiert hat«, sagte die Frau mit ruhiger Stimme.
Der Augenblick war ideal gewählt. Der Bote schaffte es nicht, dem Fürsten und dem Ritter Widerstand zu leisten und gleichzeitig den Regenbrunnen zu kontrollieren. Wseslawa entzog Lubomir die Quelle seiner magischen Kraft, der Zweig in ihren Händen begann zu leuchten und der grüne Schein, der den überwältigten Zauberer umgab, erlosch. Seine letzten Kräfte schwanden dahin.
»Tod dem Boten!«, rief der Fürst und bohrte seine Krallen noch tiefer in den Körper des Feindes. Der rechte Arm des Zauberers verfärbte sich schwarz, so als fräße sich der schwarze Nebel, der das Monster umhüllte, in sein Gewebe.
»Tod dem Boten!«, wiederholte der Großmagister, und Lubomirs zweiter Arm fing Feuer.
»Nein!«, flehte der Zauberer und sah Wseslawa verzweifelt an.
»Tod dem Boten!«, rief die Königin und schwang den Zweig über seinem Kopf.
»Nein!!!«
Blendendes, weißes Licht durchflutete das Kabinett.
Als Artjom wieder etwas sehen konnte, war der Kampf der Magier vorbei, und alle Beteiligten hatten wieder ihr ursprüngliches Äußeres angenommen.
Der Großmagister saß ganz in der Nähe von Artjom auf einem Hocker. Er war ein älterer Herr mit einem ehrwürdigen, weißen Bart und traurigen Augen. Der Kampf hatte ihn erschöpft. Der Gebieter des Herrscherhauses Tschud atmete schwer, seine Hände zitterten und sein golddurchwirktes Hemd war nass geschwitzt.
Lubomir klammerte sich mit den Händen an den Tisch und versuchte verzweifelt, auf die Beine zu kommen. Er sah fürchterlich aus: das Haar zerzaust, das Gesicht totenblass, die Finger verkrümmt und die Handgelenke durchlöchert … Aus der Wunde in der linken Flanke des Zauberers strömte Blut und besudelte seine weiße Wolljacke.
Der Bote war dem Tode nahe. Sein irrer Blick haftete an Wseslawa, die wie versteinert am Kamin stand, seine Lippen zitterten und blutiger Schaum quoll aus seinem Mund. Die Königin schluchzte leise und trat einen Schritt zurück.
»Erlaubt ihm nicht, eine Zauberformel zu sprechen, Eure Majestät!«, sagte jemand.
»Er kann nicht«, erwiderte Wseslawa mit gesenktem Blick.
Der Jemand war Santiago. Er war wieder ganz der Alte: ein piekfeiner Snob. Nur sein Anzug war völlig ruiniert, und die Krawatte hing ihm über die Schulter.
»Wo ist denn der Fürst abgeblieben?«, erkundigte sich der Großmagister.
»Er erwartet uns in der Zitadelle«, antwortete Santiago und lächelte höflich. »Mit eurer Erlaubnis vertrete ich einstweilen die Interessen des Herrscherhauses Naw.«
»Wir haben nichts dagegen«, seufzte Wseslawa.
»Verbindlichsten Dank.«
Weder die Königin noch de Saint-Carré wunderten sich über das plötzliche Verschwinden des Fürsten. Der Gebieter des Dunklen Hofs verließ die Zitadelle nur, wenn es unbedingt nötig war, und nie für längere Zeit. Artjom stellte verwundert fest, dass die beiden Magier die Verwandlung des Kommissars in den Fürsten und umgekehrt nicht mitbekommen hatten und offenbar nicht wussten, dass der Fürst und Santiago ein und dieselbe Person waren. Oder war dem doch nicht so? Artjom wusste nicht mehr, was er glauben sollte.
»Wir müssen die Sache zu Ende bringen«, forderte der Kommissar.
»Lass ihn in Ruhe, Santiago«, bat Wseslawa. »Er stirbt ohnehin.«
»Eben deshalb«, sagte der Naw. »Wir müssen sichergehen, dass in der Verborgenen Stadt nie wieder ein Bote geboren wird.«
»Der Kommissar hat Recht«, befand der Großmagister
und erhob sich von seinem Hocker. »Wir müssen das Übel der Prophezeiung mit der Wurzel ausreißen.«
Wseslawa wandte sich ab. Santiago hob sein Stilett vom Boden auf, ging wortlos zu dem sterbenden Lubomir und stach ihm eiskalt in die Brust. Der Zauberer winselte jämmerlich.
»Verzeih mir«, flüsterte Wseslawa, und
Weitere Kostenlose Bücher