Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
schwarz gekleideter Kerl, der über die Motorhaube des Honda gesprungen war, hatte Ortega bereits erreicht. Mit der Linken bog er die Pistole zur Seite, mit der Rechten zog er ein kurzes Messer und schnitt Ortega den Brustkorb auf. Aus der Wunde quoll Blut. Ortega schrie verzweifelt und versuchte mit letzter Kraft, den Angreifer abzuwehren, indem er sich buchstäblich auf ihn stürzte. Doch der Zwerg riss ihm mit einem brutalen Griff das Herz aus der Brust und schleuderte den leblosen Körper gegen den Jaguar.
Als der Mörder den pulsierenden schwarzen Klumpen triumphierend in die Luft reckte, hätte sich Artjom beinahe übergeben müssen, doch er riss sich zusammen und ging hinter dem geparkten Wolga in Deckung, ohne den Zwerg aus den Augen zu lassen.
Der kurzbeinige Killer war zum Glück sehr mit sich selbst und seinem grandiosen Sieg beschäftigt. Mit seinen langen, muskulösen Armen sah er aus wie ein Zirkusschimpanse, dem man zum Gaudium des Publikums schwarze Lederkleider angezogen hatte. Der weit vorgeschobene Unterkiefer und die platte Nase verstärkten noch diesen Eindruck. Seine freien Arme waren vollständig tätowiert und sogar seine linke Wange zierte ein Tattoo in Form einer Pflanze. Auf dem Schädel trug der Mörder ein rotes Bandana. Eine Rothaube also, so hatte sie Cortes genannt.
Rund um den demolierten Jaguar machten sich nun hektisch weitere Banditen zu schaffen. Der Killer war nicht allein gekommen. Artjom konnte sich schon denken, wonach sie suchten: das Amulett. Die Karosserie des Wolgas bot ihm zwar gute Deckung, dennoch duckte sich Artjom noch tiefer und erstarrte.
Direkt unter dem Auto lag – völlig unversehrt – der kleine, schwarze Rucksack. Artjom blieb keine Zeit zum Nachdenken. Die Rothauben, die inzwischen festgestellt hatten, dass sich das Amulett nicht im Jaguar befand, stöberten fieberhaft zwischen den Autos auf der Fahrbahn umher und kamen immer näher. Artjom schnappte sich den Rucksack und kroch auf allen vieren rückwärts zum Eingang des GW-Gebäudes. Mit dem Hinterteil drückte er die Tür auf und warf sich in die Eingangshalle, wo er direkt einem Wachmann vor die Füße fiel.
»Was ist passiert?«
»Ruf einen Krankenwagen! Schurotschka wurde angeschossen!! «
»Um Gottes willen, was spielt sich da draußen ab?«
»Frag nicht, tu, was ich dir gesagt habe!«, zischte Artjom und stand auf.
»Bist du unverletzt?«
»Sieht so aus.«
Artjom hängte sich den Rucksack um und ließ den Wachmann stehen.
Die Explosion auf der Straße hatte allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Die Mitarbeiter der Firma GW waren in die Eingangshalle geströmt und platzten förmlich vor Neugier. Auf die Straße hatten sie sich aus verständlichen
Gründen nicht hinausgetraut, doch nun umringten sie Artjom und löcherten ihn mit Fragen. Was ist passiert? Was macht die Polizei? Wie viele Leichen liegen auf der Straße? Die Eifrigsten schlugen vor, die Presse zu informieren.
Artjom wimmelte die neugierigen Frager ab, bahnte sich einen Weg zur Toilette im Erdgeschoss, schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht und schaute in den Spiegel. Einigermaßen zerknittert sah er aus, und in seinen Augen lag ein Anflug von Irrsinn. Doch im Wesentlichen war er heil geblieben, abgesehen von einer frischen Schramme auf der Stirn, die er sich wohl zugezogen hatte, als er den Rucksack unter dem Auto hervorzog. Es hätte weitaus schlimmer kommen können. Artjom kämmte sich, versteckte die Schramme unter einer Locke und zwang sich zu einem Lächeln. Es geriet schauderhaft, doch es gelang. Im Prinzip war einigermaßen klar, was er nun zu tun hatte. Er würde sich freinehmen, was unter den gegebenen Umständen kein Problem sein sollte. Dann würde er von hier verschwinden, zum Beispiel zu Lusja, die vermutlich sogar zu Hause war. Dort würde er bis zum Abend ausharren und dann weitersehen.
Um in sein Büro zu gelangen, musste Artjom abermals die Eingangshalle durchqueren. Die schaulustige Menge war inzwischen auf die Straße hinausgeströmt, wo sich die Lage offenbar beruhigt hatte. Nur der Wachmann war noch hier und unterhielt sich mit zwei Männern in abgetragenen, grauen Anzügen. Sie waren beide von kleinem Wuchs und wirkten irgendwie schmierig, wie blasierte Werbeagenten. Noch gestern hätte ihnen
Artjom keinerlei Beachtung geschenkt, doch jetzt stutzte er. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden. Warum waren sie nicht mit den anderen Gaffern draußen, um das Wrack des Jaguars zu bestaunen und die
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