Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
aufzuhören, nicht wahr?«
»Viermal«, präzisierte Andrej. »Es klappt einfach nicht.«
»Das wundert mich«, sagte Heinrich Karlowitsch milde. »Dabei bist du doch ein sehr willensstarker Mensch.«
»Vielleicht will ich gar nicht aufhören?«, mutmaßte der Major und grinste.
Kornilows Elternhaus war ein Hort kulturellen Lebens. Sein Vater, von Beruf Chefkonstrukteur in einem großen Rüstungsbetrieb, schwärmte fürs Theater und liebte gesellige Zusammenkünfte in seiner Wohnung. Dichter, Schauspieler, Wissenschaftler, Lesungen neuester Werke, angeregte Unterhaltungen und heftige Diskussionen über Gott und die Welt umgaben Andrej von Kindheit an. In dieser illustren Gesellschaft fiel der unscheinbare und stets zurückhaltende Mann mit dem seltsamen Namen Heinrich Karlowitsch höchstens durch seine glänzenden Fremdsprachenkenntnisse auf. Deutsch und Englisch beherrschte er fließend und war sowohl mit der klassischen, als auch mit der zeitgenössischen Literatur dieser Sprachräume vertraut. Welchem Beruf er nachging, erfuhr Kornilow erst in der letzten Schulklasse, als der wortkarge Heinrich Karlowitsch dem Sohn seines besten Freundes anbot, im Militärgeheimdienst Karriere zu machen. Andrej lehnte das Angebot damals ab, doch den Ratschlägen des alten Mannes brachte er seither besondere Wertschätzung entgegen.
»Ich habe mir die Unterlagen angesehen, nach denen du gefragt hattest«, kam Heinrich Karlowitsch zur Sache. »Lebedew hat tatsächlich beim Militärgeheimdienst GRU gedient. In der Spezialeinheit haben wir ihn nicht allzu lange gedrillt, etwa ein Jahr. Danach haben wir ihn in eine andere Abteilung versetzt. Er sprach hervorragend Spanisch und Französisch – sehr ungewöhnlich für einen Jungen aus dem Waisenhaus. Wir haben eine Aufgabe
für ihn gefunden, bei der er diese Fähigkeiten anwenden konnte.«
»Seine Personalakte werde ich also nie zu Gesicht bekommen, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Du kannst ja mich fragen.«
»Warum hat er den Dienst quittiert?«
»Alle gehen einmal früher oder später.«
»Wissen Sie, was er im zivilen Leben gemacht hat?«
»Lebed ist jedenfalls nicht in die Kriminalität abgerutscht, soviel ist sicher«, sagte der Greis mit Bestimmtheit. »Unser Igor war ganz anders erzogen.«
»Lebed?«
»Das war sein Spitzname.«
»Er ist bei einer Schießerei ums Leben gekommen.«
»Nicht jede Schießerei hat einen kriminellen Hintergrund, Andrej.«
»Steckt ihr hinter der Operation?«, fragte der Major finster. »Ich meine die Schießerei am Wernadski-Prospekt und alles, was damit zusammenhängt.«
»Wir mischen uns äußerst selten in innere Angelegenheiten ein. Und wenn, dann gehen wir wesentlich diskreter zu Werke.«
Kornilow glaubte dem alten Mann aufs Wort. Dennoch wäre ihm eine andere Antwort lieber gewesen, dann hätten sich viele Ungereimtheiten mit einem Schlag aufgeklärt. Der Major dachte nach.
»Er ist nicht allein in diese Schießerei geraten.«
»Lebed war ein Teamplayer. Mit der Konzeption und Leitung der Operationen waren in der Regel andere Leute befasst.«
»Haben Sie eine Ahnung, mit wem er zusammen gewesen sein könnte?«
Heinrich Karlowitsch setzte ein gutmütiges Grinsen auf: »Ich habe schon immer gesagt, dass an dir ein guter Geheimdienstler verlorengegangen ist. Deine Hartnäckigkeit ist bemerkenswert.«
Kornilow wollte nach seinen Zigaretten greifen, doch dann überlegte er es sich anders und nestelte zerstreut an seinem Sakko.
»Und?«
»Igor hat unseren Apparat zusammen mit seinem Kommandeur verlassen, einem Führungsspieler, um im Bild zu bleiben.«
»Ein Resident?«
»Nein.« Heinrich Karlowitsch legte die Stirn in Furchen. »Die Abteilung, in der die beiden arbeiteten, war für besonders heikle Missionen zuständig.«
Mit einer solchen Antwort hatte Andrej gerechnet. An den Spuren des Massakers am Lenin-Prospekt konnte man ablesen, dass erfahrene Profis am Werk gewesen waren.
»Und wie ist es um die Erziehung dieses ›Führungsspielers‹ bestellt?«, fragte der Major. »Vielleicht ist er in die Kriminalität abgerutscht?«
»Ausgeschlossen. Das wäre unter seinem Niveau.«
»Gestern Nacht«, entgegnete Kornilow und wählte jedes Wort mit Bedacht, »hat euer Spezialist für heikle Missionen am Lenin-Prospekt elf Menschen ins Jenseits befördert.«
»Und wie viele waren es insgesamt?«
»Elf.«
»Vorbildlich.«
»Der Mann ist gefährlich, Heinrich Karlowitsch.«
»Das glaube ich kaum«, sagte der
Weitere Kostenlose Bücher