Die verborgene Wirklichkeit
Umschläge mit zwei Euro, vier Euro, sechs Euro, acht Euro und zehn Euro einzutauschen, ist zweifellos sinnvoll. Nachdem wir aber einen Augenblick nachgedacht haben, geraten wir ins Schwanken: Wir erkennen, dass die Sache im Fall einer unendlichen Anzahl weniger eindeutig ist. Jetzt denken wir: »Wenn ich das Angebot annehme, habe ich am Ende Umschläge mit zwei Euro, vier Euro, sechs Euro und so weiter, also mit allen geraden Zahlen. Wie die Dinge derzeit stehen, decken meine Umschläge aber alle ganzen Zahlen ab, die geraden ebenso wie die ungeraden. Wenn ich also auf das Angebot eingehe, fallen die ungeraden Beträge aus meiner Gesamtbilanz heraus. Das hört sich nicht besonders klug an.« Jetzt schwirrt uns der Kopf. Vergleicht man Umschlag für Umschlag, hört sich das Angebot gut an. Vergleicht man Gesamtzahl mit Gesamtzahl, sieht es schlecht aus.
Das Dilemma macht deutlich, welche mathematischen Fallstricke es so schwierig machen, unendlich große Mengen zu vergleichen. Das Publikum wird ungeduldig, wir müssen eine Entscheidung treffen, aber unser Urteil über das Angebot hängt davon ab, wie wir die beiden Ergebnisse vergleichen.
Eine ähnliche Zweideutigkeit erschwert den Vergleich einer noch grundsätzlicheren Eigenschaft solcher Mengen: der Anzahl ihrer Elemente. Auch das wird in dem Beispiel aus der Fernsehshow deutlich. Welche Menge enthält eine größere Anzahl von Elementen: die ganzen Zahlen oder die geraden Zahlen? Die meisten Menschen würden sagen: die ganzen Zahlen, denn nur die Hälfte aller ganzen Zahlen sind gerade Zahlen. Aber unser Erlebnis mit dem Moderator verschafft uns eine scharfsinnigere Einsicht. Angenommen, wir nehmen das Angebot an und erhalten alle geradzahligen Geldbeträge. Dabei würden wir weder Umschläge zurückgeben noch neue erhalten, sondern der Moderator würde einfach in jedem Umschlag den Geldbetrag verdoppeln. Demnach würden wir zu dem Schluss gelangen, dass die Zahl der Umschläge, die notwendig sind, um alle ganzen Zahlen aufzunehmen, genauso groß ist wie die Zahl derer, die zur Aufnahme aller geraden Zahlen gebraucht werden – was die Vermutung nahelegt, dass die Anzahl der Elemente in beiden Mengen gleich ist ( Tabelle 7.1 ). Aber das
ist seltsam. Mit der einen Vergleichsmethode – wir betrachten die geraden Zahlen als Teilmenge der ganzen Zahlen – gelangen wir zu dem Schluss, dass die Zahl der ganzen Zahlen größer ist. Mit einer anderen Vergleichsmethode – dieses Mal betrachten wir, wie viele Umschläge notwendig sind, um die Elemente der beiden Gruppen aufzunehmen – stellen wir fest, dass die Menge der ganzen Zahlen und die Menge der geraden Zahlen die gleiche Anzahl von Elementen umfassen.
Tabelle 7.1 Jede ganze Zahl bildet ein Paar mit einer geraden Zahl und umgekehrt, was darauf schließen lässt, dass die Anzahl in beiden Fällen die gleiche ist.
Wir können uns sogar davon überzeugen, dass es mehr gerade Zahlen als ganze Zahlen gibt. Angenommen, der Moderator bietet an, den Geldbetrag in jedem anfänglich vorhandenen Umschlag zu vervierfachen: Im ersten sind dann also vier Euro, im zweiten acht, im dritten zwölf und so weiter. Da die Zahl der Umschläge auch hier die gleiche bleibt, kann man also schließen, dass die Menge der ganzen Zahlen, mit der das Spiel begann, ebenso groß ist wie die der durch vier teilbaren Zahlen ( Tabelle 7.2 ), die wir am Ende des Spiels haben. Aber bei einer solchen Paarbildung, in der sich jede ganze Zahl mit einer durch 4 teilbaren Zahl verbindet, bleibt eine unendlich große Menge von geraden Zahlen außen vor – die 2, 6, 10 und so weiter. Und daraus könnte man schließen, dass die geraden Zahlen zahlreicher sind als die ganzen Zahlen.
Aus der einen Perspektive ist die Population der geraden Zahlen kleiner als die der ganzen Zahlen. Aus einer anderen sind beide gleich groß, und aus einer dritten ist die Zahl der geraden Zahlen sogar größer als die der ganzen Zahlen. Nun ist es aber nicht so, dass die eine Schlussfolgerung richtig und die anderen falsch wären. Es gibt einfach auf die Frage, welche von solchen unendlich großen Sammlungen größer ist, keine richtige Antwort. Welches Ergebnis man erhält, hängt davon ab, wie man den Vergleich anstellt. 10
Für die Multiversums-Theorien stellt sich damit ein Rätsel. Wie können wir herausfinden, ob Galaxien und Leben in Universen dieses oder jenes Typs häufiger vorkommen, wenn die Zahl der beteiligten Universen unendlich ist? Die gleiche
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