Die verborgene Wirklichkeit
Photonen, die ihren Weg gerade erst begonnen haben und demnach viel energiereicher und heißer sind. Wenn der Beobachter zusieht, wie wir uns dem Horizont bis auf Haaresbreite nähern, erkennt er auch, dass unser Körper mit immer heftigerer Hawking-Strahlung bombardiert wird, bis von uns schließlich nur noch verkohlte Überreste übrig bleiben.
Wir selbst erleben glücklicherweise etwas wesentlich Erfreulicheres. Wir sehen nichts, fühlen nichts und erhalten auch sonst keinen Hinweis auf diese heiße Strahlung. Und da der freie Fall die Wirkungen der Gravitation aufhebt, 10 ist unser Erlebnis nicht vom Schweben im leeren Raum zu unterscheiden. Und eines wissen wir sicher: Wenn wir im leeren Raum schweben, gehen wir nicht plötzlich in Flammen auf. Aus unserer Perspektive lautet also die Schlussfolgerung: Wir durchqueren ohne Zwischenfälle den Horizont und rasen (was
weniger angenehm ist) auf die Singularität des Schwarzen Lochs zu. Aus der Perspektive des entfernten Beobachters dagegen werden wir von einer flammenden Korona verschluckt, die den Horizont umgibt.
Welche Perspektive ist die richtige? Susskind und andere behaupten: beide. Das ist natürlich mit gewöhnlicher Logik schwer in Einklang zu bringen – mit jener Logik, nach der man entweder lebendig oder nicht lebendig ist. Hier handelt es sich allerdings auch nicht um eine gewöhnliche Situation. Am auffälligsten ist, dass die höchst unterschiedlichen Perspektiven einander nie direkt gegenüberstehen. Wir können nicht aus dem Schwarzen Loch klettern und dem entfernten Beobachter beweisen, dass wir noch leben. Und wie sich herausstellt, kann der entfernte Beobachter auch nicht in das Schwarze Loch springen und uns mit dem Beleg konfrontieren, dass wir nicht leben. Als ich gesagt habe, dass der entfernte Beobachter »sieht«, wie wir in der Hawking-Strahlung des Schwarzen Lochs verbrennen, war das eine Vereinfachung. Wenn der entfernte Beobachter die ermüdete Strahlung, die zu ihm gelangt, genau untersucht, kann er die Geschichte unseres feurigen Abganges rekonstruieren. Aber bis die Information ihn erreicht, vergeht Zeit. Und wie die Berechnungen zeigen, hat er zu dem Zeitpunkt, an dem er merkt, dass wir verbrannt sind, keine Zeit mehr, in das Schwarze Loch zu springen und uns einzuholen, bevor wir von der Singularität zerstört werden. Die Sichtweisen mögen unterschiedlich sein, aber in der Physik gibt es einen eingebauten Sicherheitsmechanismus gegen Paradoxa.
Wie steht es mit der Information? Aus unserer Sicht passieren alle Informationen, die in unserem Körper, im Gehirn und in dem Laptop in unserer Hand gespeichert sind, zusammen mit uns den Horizont des Schwarzen Lochs. Aus Sicht des entfernten Beobachters werden alle von uns mitgeführten Informationen von der Strahlungsschicht aufgenommen, die unaufhörlich unmittelbar oberhalb des Horizonts wabert. Die Bits, die in unserem Körper, Gehirn und Laptop gespeichert sind, bleiben dabei zwar erhalten, werden aber gründlich durcheinandergewürfelt, hin und her gestoßen und vermischt, wenn sie sich mit dem glühend heißen Horizont vereinigen. Demnach ist der Ereignishorizont für den entfernten Beobachter ein echter Ort, bevölkert von echten Dingen, die der Information, wie sie in dem Schachbrett in Abbildung 9.2 symbolisch wiedergegeben ist, physischen Ausdruck verleihen.
Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, lautet: Der entfernte Beobachter gelangt zu der Erkenntnis, dass die Entropie eines Schwarzen Lochs vom Flächeninhalt seines Ereignishorizonts abhängt, weil der Horizont derjenige Ort ist, an dem die Entropie gespeichert wird. So formuliert, hört es sich völlig plausibel an. Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, wie seltsam es ist, dass die
Speicherkapazität nicht vom Volumen des Schwarzen Lochs bestimmt wird. Und wie wir im Folgenden erfahren werden, wirft diese Erkenntnis nicht nur ein Schlaglicht auf ein seltsames Merkmal, das nur bei Schwarzen Löchern auftritt. Schwarze Löcher sagen nicht nur etwas darüber aus, wie sie selbst Information speichern. An Schwarzen Löchern können wir etwas darüber lernen, wie Informationsspeicherung in jedem beliebigen Kontext funktioniert. Damit eröffnet sich ein unmittelbarer Weg zur holographischen Sichtweise.
Jenseits der Schwarzen Löcher
Betrachten wir ein beliebiges Objekt oder eine Ansammlung von Objekten – die Bestände der Kongressbibliothek, alle Computer von Google, die Archive der CIA –, die sich in
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