Die verborgene Wirklichkeit
Energie ausstattete, dann ergibt sich (aus Gründen, die ich im nächsten Kapitel erläutern werde), dass jede Raumregion jede andere abstößt, so dass wir es mit etwas zu tun haben, das die meisten Physiker für unmöglich gehalten hatten: abstoßender Gravitation. Und noch etwas anderes fand Einstein heraus: Wenn man für die Zahl in der dritten Zeile einen ganz bestimmten Wert wählt, dann bildet die abstoßende Gravitationskraft, die insgesamt im Kosmos entsteht, ein genaues Gegengewicht zu der bekannten Gravitationsanziehung, die von der im Raum enthaltenen Materie ausgeht; insgesamt folgt daraus ein unbewegliches Universum. Wie ein schwebendes Luftschiff, das weder steigt noch sinkt, wäre das Universum damit unveränderlich.
Einstein bezeichnete den Eintrag in der dritten Zeile als kosmologisches Glied oder kosmologische Konstante ; nachdem er sie eingeführt hatte, konnte er aufatmen. Oder wenigstens leichter atmen. Wenn es im Universum eine kosmologische Konstante der richtigen Größe gab – das heißt, wenn der Raum mit der richtigen Menge an innerer Energie ausgestattet war –, stand Einsteins Gravitationstheorie im Einklang mit der allgemein herrschenden Überzeugung, dass das Universum sich auf großen Skalen nicht verändert. Warum der Raum genau die richtige Energiemenge enthalten und seinen Balanceakt damit überhaupt erst möglich machen sollte, konnte er nicht erklären, aber zumindest hatte er gezeigt, dass die Allgemeine Relativitätstheorie, ergänzt um eine kosmologische Konstante der richtigen Größe, den Kosmos erklärte, den er und andere erwartet hatten. 7
Das Uratom
Vor diesem Hintergrund wandte sich Lemaître 1927 in Brüssel bei der Solvay-Konferenz an Einstein und erläuterte ihm seinen Befund, wonach sich auf Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie ein neues kosmologisches Modell eines expandierenden Universums aufbauen ließe. Einstein, der sich bereits eingehend mit der für ein unveränderliches Universum nötigen Mathematik herumgeschlagen und ganz ähnliche Behauptungen von Friedmann abgetan hatte, brachte wenig Geduld dafür auf, sich noch einmal mit einem expandierenden Kosmos auseinanderzusetzen. Deshalb warf er Lemaître vor, dieser sei blind nur der Mathematik gefolgt und habe »abscheuliche Physik« praktiziert, indem er sich mit einer offenkundig absurden Schlussfolgerung abgefunden habe.
Ein Rüffel von einer angesehenen Persönlichkeit ist ein nicht geringer Rückschlag, aber für Lemaître war er nur von kurzer Dauer. Schon 1929 sammelte der amerikanische Astronom Edwin Hubble mit dem damals größten Teleskop der Welt in der Mount-Wilson-Sternwarte überzeugende Belege dafür, dass alle weit entfernten Galaxien sich von der Milchstraße entfernen. Die von dort kommenden Photonen, die Hubble analysierte, waren mit einer eindeutigen Botschaft zur Erde gelangt: Das Universum ist nicht unbeweglich. Es expandiert tatsächlich. Die Begründung, mit der Einstein die kosmologische Konstante eingeführt hatte, war falsch. Seit jener Zeit wurde das Urknallmodell, wonach der Kosmos in einem Zustand enorm hoher Dichte begann und seither stetig expandiert, zur allgemein anerkannten wissenschaftlichen Schöpfungsgeschichte. 8
Damit waren Lemaître und Friedmann bestätigt. Friedmann wurde das Verdienst zuerkannt, als Erster die Lösungen der Einsteinschen Gleichungen untersucht zu haben, die das expandierende Universum beschreiben, und Lemaître gestand man zu, dass er sie unabhängig davon zu einem soliden kosmologischen Szenario entwickelt hatte. Zu Recht wurden ihre Arbeiten als triumphale mathematische Einsichten in die Funktionsweise des Kosmos gepriesen. Einstein dagegen wünschte sich später, er hätte sich nie mit der dritten Zeile in der Steuererklärung der Allgemeinen Relativitätstheorie herumgeschlagen. Hätte er nicht seine unbegründete Überzeugung eingebracht, das Universum sei unbeweglich, dann hätte er auch nicht die kosmologische Konstante formuliert, sondern die Expansion des Kosmos vielleicht schon zehn Jahre, bevor man sie beobachtete, vorhergesagt.
Dennoch: Die Geschichte der kosmologischen Konstante war damit noch lange nicht zu Ende.
Modelle und Daten
Zum Urknallmodell der Kosmologie gehört ein Detail, das sich als entscheidend erweisen wird. Das Modell liefert nicht nur ein einziges kosmologisches Szenario, sondern eine ganze Handvoll; in all diesen Szenarien dehnt sich das Universum aus, sie unterscheiden sich jedoch in der
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