Die verborgene Wirklichkeit
Sinneswahrnehmung und unseren Instrumenten entgehen, wenn sie nur klein genug sind.
Abbildung 4.5 Die Kaluza-Klein-Theorie postuliert zusätzliche Raumdimensionen, die an jedem Punkt der vertrauten drei großen Raumdimensionen angeheftet sind. Könnte man das Gewebe des Raumes ausreichend stark vergrößern, würden die hypothetischen zusätzlichen Dimensionen sichtbar. (Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind zusätzliche Dimensionen in dieser Zeichnung nur an Kreuzungspunkte des Rasters angeheftet.)
Als Einstein 1919 von dem Gedanken der Vereinheitlichung mithilfe zusätzlicher Dimensionen hörte, war er unentschlossen. Einerseits beeindruckte ihn ein System, das seinen Traum von der Vereinheitlichung der Realisierung näherbrachte, andererseits ließ die Exotik des Ansatzes ihn zögern. Nachdem er einige Jahre gegrübelt hatte und damit auch die Veröffentlichung von Kaluzas Artikel aufhielt, freundete er sich schließlich mit der Idee an und wurde im Laufe der Zeit zu einem der energischsten Fürsprecher verborgener Raumdimensionen. Auch in seinen eigenen Arbeiten zur Entwicklung einer vereinheitlichten Theorie kehrte er mehrmals zu dem Thema zurück.
Obwohl die Kaluza-Klein-Theorie nun Einsteins Segen hatte, stellte sich in weiteren Forschungsarbeiten heraus, dass sie mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen hat; insbesondere lassen sich die Eigenschaften der Materieteilchen, beispielsweise der Elektronen, nicht in ihre mathematische Struktur integrieren. Über mehrere Jahrzehnte hinweg versuchte man dieses Problem auf schlauen Wegen zu umgehen, und auch verschiedene Verallgemeinerungen und Abwandlungen der ursprünglichen Vorschläge von Kaluza und Klein wurden immer wieder verfolgt. Als aber kein System herauskam, das frei von Fallstricken war, ließ man die Idee, durch zusätzliche Dimensionen zur Vereinheitlichung zu kommen, Mitte der vierziger Jahre weitgehend fallen.
Dann, dreißig Jahre später, kam die Stringtheorie. Ihre mathematischen Formulierungen erlaubten nicht nur ein Universum mit mehr als drei Dimensionen, sie erforderten es sogar. Damit bot die Stringtheorie einen neuen, maßgeschneiderten Hintergrund, vor dem man auf das Programm von Kaluza und Klein zurückkommen konnte. Als Antwort auf die Frage »Wenn die Stringtheorie die so lange gesuchte vereinheitlichte Theorie ist, warum haben wir dann die dafür erforderlichen zusätzlichen Dimensionen nicht gesehen?«, rufen Kaluza und Klein uns über die Jahrzehnte hinweg zu: Die Dimensionen sind überall um uns herum, sie sind nur so klein, dass wir sie nicht sehen können. Die Stringtheorie erweckte das Kaluza-Klein-Programm wieder zum Leben, und Mitte der achtziger Jahre hatten die Wissenschaftler auf der ganzen Welt Anlass zu der Hoffnung, es sei nur noch eine Frage der Zeit – und zwar nach Ansicht der enthusiastischsten Vertreter nur noch einer kurzen Frist –, bis die Stringtheorie eine vollständige Theorie aller Materie und sämtlicher Kräfte hervorbringen würde.
Große Erwartungen
In der Frühzeit der Stringtheorie ging es mit den Fortschritten derart Schlag auf Schlag, dass es fast unmöglich war, sich über alle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Die Atmosphäre wurde vielfach mit jener der zwanziger Jahre verglichen, als Wissenschaftler in die neu entdeckte Domäne der Quanten vorstießen. Bei so viel Aufregung ist es verständlich, dass manche Theoretiker von einer schnellen Lösung für die wichtigsten grundlegenden Probleme der Physik sprachen, als da wären: die Verschmelzung von Gravitation und Quantenmechanik; die Vereinheitlichung aller Naturkräfte; die Formulierung einer Erklärung für die Eigenschaften der Materie; der Nachweis der Anzahl der Raumdimensionen; die Formulierung einer zufriedenstellenden Erklärung für die Singularitäten in Schwarzen Löchern; die Auflösung des Rätsels über den Ursprung des Universums. Aber wie erfahrenere Wissenschaftler vorausgesehen hatten, waren diese Erwartungen verfrüht. Die Stringtheorie ist so reichhaltig, so umfassend und mathematisch so schwierig, dass wir auch heute, fast drei Jahrzehnte nach der anfänglichen Euphorie, auf dem Weg ihrer Erforschung erst eine Teilstrecke zurückgelegt haben. Und angesichts der Tatsache, dass der Geltungsbereich der Quantengravitation hundert Milliarden Milliarden Mal kleiner ist als alles, was uns heute experimentell zugänglich ist, steht uns nach nüchternem Urteil noch ein langer Weg bevor.
Wo befinden wir uns heute?
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