Die verborgenen Bande des Herzens
dass das Ganze irgendwie nicht koscher ist, doch ich bin zu sehr darauf konzentriert zu erfahren, was sich unter dem Vorhang verbirgt, dass ich mich nicht weiter damit befasse. Eine böse Ahnung beschleicht mich, und der alte Mann weiß es. Ein gemeines Grinsen geht über sein Gesicht, er genießt meine Beklommenheit. Seine Augen fixieren mich. Dann greift seine Hand nach einem Zipfel des Vorhangs. Er hebt eine Augenbraue, als wollte er fragen: »Soll ich?« Und dann sehe ich, wie er ganz langsam, genüsslich an dem Stoff zieht. Und plötzlich reißt er heftig daran. Der Vorhang bauscht sich gehässig und sinkt dann auf dem Boden in sich zusammen. Zum Vorschein kommt der Rollstuhl, seine bleigraue Farbe, der grobe graue Canvasstoff der Rückenlehne, doch der Metallrahmen glitzert, als würde sich die Sonne darin spiegeln, er blendet mich derart, dass ich nicht hinsehen kann. Ich fliehe vor dem gleißenden Licht, mein Atem geht keuchend, und ich wache jäh aus dem Schlaf auf. Als ich das letzte Mal diesen Traum hatte, streckte ich meinem Vater die Hand entgegen und machte mit gehässiger Miene das Victory-Zeichen, als stünde er tatsächlich vor mir im Zimmer, und dann kuschelte ich mich wieder unter meine Zudecke, wickelte mich darin ein wie in einen Kokon.
Jetzt bin ich im Fitnesscenter, meine Lungen fühlen sich an, als wären sie mit Sandpapier ausgekleidet. Bei jedem Einatmen fährt ein kratzender Schmerz durch meinen Brustkorb, während er sich mit Luft füllt. Die Zahl auf dem Display, die meinen Puls anzeigt, steigt stetig an: 155, 156, 157. Mein Mund ist so trocken, dass ich spüre, wie meine Lippen spröde werden und sich nach innen ziehen. Meine Zunge schwillt an, wird zu einem Hindernis im Gaumen, das mir die Luft nimmt und Hustenreiz auslöst. Ich schlucke mühsam. 164, 165, 166. Mein Puls steigt im Takt mit der Zeituhr. Noch dreißig Sekunden. Ich versuche, mein Spiegelbild in dem großen Spiegel an der Wand vor mir zu ignorieren, blicke starr auf das Display. Auf meiner Stirn perlt der Schweiß.
Noch zwanzig Sekunden. Ich habe mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der von einer Seite zur anderen schwingt, während sich meine Füße auf dem Laufband bewegen. Das Geräusch meiner Schritte ist ein rhythmisches dumpfes Hämmern. Die Maschine piept. Puls überprüfen. 167. Ich blicke kurz hoch in den Spiegel, sehe, dass mein normalerweise blasses Gesicht hochrot geworden ist. Im Leben darf man keine Schonung zeigen, nicht einmal sich selbst gegenüber. Vor allem nicht sich selbst gegenüber. Im Leben braucht man Entschlossenheit: Man darf nie das Ziel aus den Augen verlieren, nie aufgeben.
Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen. Ein Zittern läuft durch meine Wadenmuskeln bis hinauf in die Oberschenkel. Noch zehn Sekunden. Ich bringe kaum mehr die Füße hoch, sie klatschen auf das Band, ohne Rhythmus, ohne Koordination, als gehörten sie einem alten, von den vielen Schlägen verblödeten Schwergewichtsboxer, den allein sein Durchhaltevermögen weiterkämpfen lässt, obwohl er seine Technik längst verloren hat. Nur noch ein klein wenig länger, ein klein wenig weiter. Fünf Sekunden. Vier. Drei. Zwei … Ich strecke rasch den Finger aus, drücke auf den Knopf, sehe zu, wie die Zahl wieder auf dreißig hochklettert. Nur noch weitere dreißig Sekunden. Sechzig hätte ich nicht mehr geschafft. Aber dreißig sind machbar. Und sind die dreißig Sekunden um, weiß ich, vielleicht sind ein letztes Mal weitere dreißig Sekunden möglich. Immer nur einen Schritt nach dem anderen.
So ist es nun mal im Leben. Wenn du denkst, dass du nun das erreicht hast, was du eben erreichen kannst, wenn du das Gefühl hast, keinen einzigen Schritt weitergehen zu können, dann – dann – kannst du immer noch wenigstens ein paar Schritte weitermachen.
Nach meinem Training im Fitnesscenter sitze ich noch eine Weile im Auto und starre vor mich hin, gut zwanzig Minuten lang. Ich möchte dringender denn je diesen Fall lösen. Wenn Alex für Carol Anns Verschwinden verantwortlich ist, werde ich mir den Mistkerl schnappen, und wenn er es nicht ist, geht es ihm dennoch an den Kragen. Ich fische mein Handy aus der Tasche und wähle die Nummer von Jack Thornton. Ich werde sofort mit seiner Mailbox verbunden. »Sie sprechen mit dem Anschluss von Jack Thornton von der Daily Tribune . Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Pfeifton.«
Eine Sekunde lang erwäge ich, wieder aufzulegen. Dann höre ich mich sagen:
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