Die verborgenen Bande des Herzens
augenblicklich, was das zu bedeuten hat. Es ist erstaunlich, welche Vielzahl von Überlegungen das Gehirn binnen einer einzigen Sekunde anstellen kann.
Mein Blick wandert langsam von den Schuhen zum Bett. Alex sitzt mit gekreuzten Beinen auf Josies Kopfkissen und hält zärtlich ihren Kopf in seinem Schoß. Er sitzt ganz still da. Sein Gesicht ist tränenüberströmt. Die Nase läuft ihm, doch er macht keine Anstalten, sie zu putzen. Als ich weiter eintrete, registriert er mein Kommen nicht. Es ist, als würde ich in diesem Zimmer nicht existieren.
»Josie?« Meine Stimme wird schrill, überschlägt sich.
Alex richtet endlich seine Aufmerksamkeit auf mich, aber schweigt weiterhin.
»Ist sie …?«
Er schaut mir nun direkt ins Gesicht, und irgendwo tief in ihm drinnen erkenne ich eine Art Mitleid für mich, das sich in den wässrigen Tümpeln seiner Augen spiegelt. Schweigend nickt er.
»Josie, Josie, Josie …«, wimmere ich und nähere mich dem Bett. Alex rückt ein Stück zur Seite, um Platz für mich zu machen, hält ihren Kopf jedoch weiter sanft mit beiden Händen umschlossen, bis ich die Arme ausstrecke und Josie übernehme. Ich drücke sie so fest an mich, dass mein Gesicht neben ihrem auf dem Bett zu liegen kommt. Ich kann nicht mehr aufhören, ihren Kopf mit sanften Küssen zu bedecken. So küsste ich sie damals, als sie gerade auf die Welt gekommen war, als sie noch blutig von der Geburt war. Ich weiß noch, wie der Arzt mich anstarrte, nicht entgeistert, eher fasziniert, dass ich offenbar aus einem Instinkt heraus immer wieder ihr blutiges Köpfchen küssen musste. Das Blut machte mir nichts aus, auch wenn bei der Berührung meine Lippen blutig wurden, die nach den Wehen spröde und aufgesprungen waren.
»Aber warum? Warum hast du mich nicht …?«, frage ich Alex und ignoriere, was ich bereits tief im Innersten weiß und von mir schiebe.
Doch ich halte mitten im Satz inne, weil es nur einen einzigen Grund geben kann, weswegen Alex mich nicht an ihr Bett geholt und somit verhindert hat, dass ich meine sterbende Tochter im Arm hätte halten können. Mein Herzschlag fühlt sich an wie das Stakkato eines Maschinengewehrfeuers.
»Die Morphiumpumpe …«, sage ich mit wildem Blick.
»Sie hat genug gelitten, Carol Ann«, flüstert er. »Wir hätten sie nicht länger festhalten können …«
Ich sehe zu, wie ihm die Tränen aus den Augen strömen.
Ich lege Josies Kopf sachte auf das Kissen zurück und erhebe mich. In meinem Inneren regt sich der Zorn in einem Maße, wie ich es nie zuvor in meinem Leben gespürt habe. Ich versuche, diesen Zorn festzuhalten, einzukapseln, denn ich habe Angst, wenn ich ihn herauslasse, ihn freisetze, könnte er ein Eigenleben entwickeln.
»Du hast … du … die Pumpe«, stammle ich dumm daher, »du hast sie … sie ist …« Meine Worte ergeben keinen Sinn. Ich gehe auf ihn zu, er breitet die Arme aus, will sie um mich legen.
»Carol Ann …«
»Du … du …«
Meine Worte sind zittrig, aber gefasst, doch dann spüre ich plötzlich, wie sich der Deckel hebt, der Inhalt explodiert und ihm ins Gesicht spritzt.
»Du verdammter …« Ich hole aus und stoße ihm meine Faust in die Brust. Ich fluche selten. Die Worte klingen fremd aus meinem Mund. Alex wirkt völlig perplex, damit hat er nicht gerechnet.
» DU VER-DAMM-TER «, brülle ich und akzentuiere jede Silbe mit einem Faustschlag. Alex will meine Hände packen. »MÖR-DER!« Ich schreie das Wort so laut heraus, dass meine Kehle schmerzt. Noch Tage danach ist meine Stimme heiser. Alex versucht, mich zu bändigen, doch ich stürze mich auf ihn, kämpfe gegen seine körperliche Überlegenheit mit so viel Rage an, dass er es nicht schafft, mich festzuhalten.
» MÖRDER !«, schreie ich mit all der Kraft, die ich mobilisieren kann. » ICH WOLLTE, DU WÄRST TOT !«
Ich hätte so etwas niemals sagen dürfen. Nie und nimmer. Ich habe es ja nicht einmal gemeint. Doch Worte lassen sich nun einmal nicht zurücknehmen. Sobald sie ausgesprochen sind, kann man sie nicht mehr rückgängig machen. Mörder. Zwei kleine Silben nur, doch sie beinhalten die Vernichtungskapazität einer Atombombe. Mör-der.
Niemand merkte bei dem Begräbnis, dass Alex und ich nicht mehr miteinander redeten. Sie nahmen die Distanz zwischen uns nicht wahr. Ich nehme an, bei einer Beerdigung spielt es keine Rolle, wie man sich verhält. Mag dein Benehmen auch noch so seltsam sein, immer wird man es deiner Trauer zuschreiben. Ja, die Leute gehen
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