Die verborgenen Bande des Herzens
Schalte den Wasserkocher ein. Schaue aus dem Fenster hinaus auf das herbstliche Laub, das durch den Drahtzaun in den Garten wirbelt. Ich gieße Wasser auf einen Teebeutel, sehe zu, wie sich in dem Wasser in der Tasse ein brauner Wirbel bildet, wie ein mooriger Bach. Ich sehe, wie der Dampf aufsteigt. Gebe Milch hinein. Lasse den Tee unberührt stehen. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Halb fünf Uhr nachmittags. Er wird schon von der Schule heimgekommen sein. Er wird allein zu Haus sein.
Ich wähle die Zahlenkombination, die die Nummernanzeige unterdrückt. Ich höre das Freizeichen. Dieses Mal wähle ich jede einzelne Zahl der dreizehnstelligen Nummer. Internationale Vorwahl. Ortsvorwahl. Festnetznummer. Mein Herz schlägt wie wild. Ich höre das Telefon viermal läuten. Er nimmt den Hörer ab und meldet sich. Ich höre ihn so deutlich, als würde er neben mir stehen, etwa in der Diele draußen vor dem Wohnzimmer. »Hallo.« Es fällt mir auf, wie sehr seine Stimme wie die von Alex klingt. Wenn er länger reden würde, würde ich aus den maskulinen Tönen den kleinen Jungen heraushören, der sich in der Unsicherheit der Flexion, dem fragenden Ton verbirgt. Doch bei diesem einen Wort, diesem »Hallo«, höre ich nur den tiefen Klang der Stimme. Ich denke, es wird mir genügen, seine Stimme zu hören, aber natürlich tut es das nicht.
»Hallo?«, wiederholt er. Das zweite Hallo klingt fragend, wachsam. Ich lege rasch wieder auf, ramme den Hörer in die Ladestation, als hätte ich mir die Finger daran verbrannt.
Zwei Tage später, an seinem Geburtstag, rufe ich wieder an, zur gleichen Zeit. Er geht sofort ans Telefon, noch ehe es das zweite Mal geläutet hat.
»Hallo?«
Ich sage kein Wort, nehme langsam den Arm herunter, will auflegen. Ich kann nicht reden.
»Mum?«
Ich höre das Wort, obwohl der Hörer bereits ein Stück von meinem Ohr entfernt ist. Ich bin wie erstarrt. Langsam hebe ich den Arm wieder, drücke den Hörer an mein Ohr, warte.
»Ich weiß, dass du es bist, Mum.«
Ich kann nicht einmal sagen, alles Gute zum Geburtstag. Ich habe mich schon gefährlich weit hinausgewagt. Sobald ich ein Wort sage, werden sich die alte und die neue Welt vermischen. Ich weiß, es ist dummes Zeug, wie irgendein lächerlicher alter Aberglaube. Wie wenn man auf keinen Fall auf die Fugen zwischen den Pflastersteinen treten darf. Die Magie stellt die Regeln meines neuen Lebens auf, sie sind voller Geheimnisse. Dadurch, dass ich telefoniere, breche ich bereits die Regeln, aber reden kann ich nicht.
»Leg nicht auf, Mum.«
Ich gehe leise zur Treppe und setze mich auf die untere Stufe, halte den Hörer weiter an mein Ohr gepresst. »Ich vermisse dich. Wir alle vermissen dich. Grandma geht es einigermaßen, aber sie braucht dich. Ich höre sie manchmal weinen. Es hört sich schrecklich an, Mum. Ich kann sie durch die Wand hören. Mum? Mum …? Dad tut, was er kann, aber …« Er unterbricht sich mitten im Satz. »Warum antwortest du mir nicht, Mum? Mum? Ich weiß, dass du dran bist. Ich weiß , dass du es bist.« Ich schlucke schwer.
»Warum tust du so was?«, fragt er unvermittelt. »Warum willst du mich noch mehr bestrafen?«
Nein. Nein. Meine Lippen formen stumm die Worte, ich schüttle den Kopf. Nein, Stevie.
»Weißt du, Mummy, niemandem kann ich es recht machen. Daddy kann ich es nicht recht machen. Und dir auch nicht.« Seine Stimme beginnt brüchig zu werden. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich nicht Josie bin.«
Er hat seit Jahren nicht mehr über Josie gesprochen. Sie war die ganze Zeit zwischen uns, hat uns nie verlassen, eine stumme Bürde.
»Ich weiß, du hast sie liebgehabt und vermisst sie. Aber ich habe sie auch liebgehabt. Ich habe sie auch verloren. Ich habe damals alles verloren, weil sie … sie hat dich mitgenommen, als sie ging.«
Ich stoße einen stummen Schrei aus. Was habe ich getan? Stevie, was habe ich getan?
»Ich weiß, dass Josie etwas Besonderes war. Sie war wirklich etwas Besonderes.«
Er weint nun. Stevie weint. Ich habe ihn nicht mehr weinen hören, seit er ein Kind war. Seit Josie gestorben ist.
»Aber was ist mit mir? Was ist mit mir , Mum? Ich bin auch dein Kind. Josie war nicht die Einzige … sie war nicht die Einzige, die dich gebraucht hat. Du hattest zwei Kinder. ZWEI KINDER …«
Er weint herzzerreißend. Es ist sein Geburtstag heute, und er weint, denke ich, als wäre dies das Entscheidende, das er mir mitzuteilen versucht. Aber seine Worte graben sich in mich hinein
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