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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
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außerdem, wer wusste besser als ich, was es bedeutete, an Besserung zu glauben, wenn andere immer nur Verzweiflung predigten. Ich bereitete dem Vogel ein Bett in der Schuhschachtel, als bereitete ich es für mein Kind. Für Josie.
    Stevie, seinen kleinen Po in die Luft gereckt, beugte sich feierlich über den Vogel. Und dann nahm er ihn in seine Patschhändchen, so behutsam … so liebevoll … und legte ihn auf die Watte. Ich war überrascht, dass er von ganz alleine, ohne dass man es ihm erklärt hatte, wusste, wie er damit umgehen sollte. Er war damals nicht älter als vier, höchstens fünf, doch nachdem er den Vogel in die Schachtel gebettet hatte, streckte er den kleinen Finger aus und strich damit ganz behutsam über den Rücken des kleinen Tiers.
    »Wird schon wieder gut«, sagte er, einen Erwachsenen nachahmend. Wie ein kleiner alter Mann, kam er mir vor. »Wird schon wieder gut.«
    Wir weichten Brotbröckchen in Milch ein und legten sie neben den Vogel.
    Er starb bald darauf, doch Stevie merkte nichts davon, denn die Augen des Vogels waren immer noch halb geöffnet, der Tod war genau in dem Moment gekommen, als das arme Ding gerade seine Augen aufmachen oder schließen wollte. An jenem Nachmittag ging Stevie anschließend wieder spielen, aber immer wieder fiel ihm der kleine Vogel ein, und dann lief er zu der Schachtel, um nach ihm zu sehen. Schließlich kam Stevie zu mir, um mich zu holen.
    »Er isst das Brot nicht, Mummy«, sagte er niedergeschlagen.
    Ich ging hinaus und warf einen Blick in die Schachtel. Dann nahm ich Stevies Hand.
    »Ich glaube, der kleine Vogel ist gestorben«, sagte ich leise.
    Eine, zwei Sekunden lang schwieg er, dann weiteten sich seine Augen, staunten über das Monumentale, was sich da eben abgespielt hatte. Dann verzerrte sich sein Gesicht.
    »Nein!«, schrie er. »Nein, das ist nicht wahr!«
    »Ich denke doch, Stevie«, sagte ich und wollte ihn in den Arm nehmen. Er schob mich weg.
    »Du hättest das nicht erlauben dürfen«, sagte er. »Du hättest das nicht erlauben dürfen.«
    »Manchmal passiert so etwas eben, Stevie. Wir haben alles getan, was wir konnten, um ihm zu helfen. Wir beide können ihm ein kleines Grab im Garten bereiten. Und wir basteln ein Kreuz aus Holzstückchen und stellen es dort auf.«
    »Nein«, sagte er, ballte zornig seine kleine Hand zur Faust und gab mir einen Stoß auf die Schulter. »Er ist nicht tot«, und mit diesen Worten stapfte er in die Garage und knallte das Tor hinter sich zu.
    Ich ließ die offene Schachtel mit dem toten Vogel liegen, wo sie war, und ließ Stevie erst einmal in Ruhe. Als ich nach einer kleinen Weile wieder hinausging, um nach ihm zu sehen, hatte er die Garage bereits wieder verlassen und spielte draußen mit seinem Kinderfahrrad. Der Deckel der Schachtel war geschlossen.
    Ich bat Alex, sich um den toten Vogel zu kümmern, und er entsorgte ihn irgendwo im Gebüsch und warf den Karton in den Müll. Stevie und ich redeten nie mehr über die Geschichte. Er fragte mich nie, wo die Schachtel geblieben war. Aber er war um eine Erfahrung reicher und bewahrte sie tief in seinem Inneren auf. Zwei Tage später waren Stevie und ich mit dem Auto in die Stadt unterwegs, als ich an einer Ampel anhalten musste. Das Autoradio war eingeschaltet, und ich summte gerade irgendeinen Song mit, als plötzlich Stevies Stimme vom Rücksitz ertönte.
    »Aber Mummy …«, sagte er leise, als befänden wir uns mitten in einer Unterhaltung und setzen sie nun nach einer kleinen Redepause fort, »Josie, sie wird doch nie sterben. Oder?« Ich drehte mich herum, quetschte meinen Oberkörper durch den Spalt zwischen den beiden Vordersitzen, um ihm nahe sein zu können, woraufhin er die Arme ganz fest um meinen Hals schlang, während hinter uns die anderen Autos zu hupen anfingen.
    Meine Finger zittern, als ich den Hörer in die Hand nehme. Ich halte meine Hand vor das Gesicht und betrachte sie, als wäre sie ein fremdes Wesen, als wäre sie nicht ein Teil von mir. Das Zittern fasziniert mich. Es gehört zu meinem Körper, und dennoch habe ich keine Kontrolle darüber, kann es nicht durch die Kraft meines Willens zum Stillstand bringen.
    Ich will seine Stimme hören. Die Sehnsucht lässt mir keine Ruhe. Ich weiß, dass ich es nicht tun darf, und gleichzeitig bin ich mir sicher, dass ich es tun werde. Es ist nur eine Frage der Zeit. Das erste Mal wähle ich vier Ziffern und lege wieder auf. Das zweite Mal lege ich nach sechs Ziffern auf. Ich gehe in die Küche.

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