Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
Vom Netzwerk:
Stevie wurde in der Bonfire Night geboren.
    Schon als Kind kümmerte sich Steve wenig darum, was andere von ihm dachten. Ich wusste schon immer, es gab einen Teil in ihm, der niemandem gehörte außer ihm selbst. Allein die Art, wie der kleine Steve dastand – die Beine leicht gespreizt, beide Füße fest auf der Erde, die Hände in die Hüften gestemmt –, war wie ein Siegeszeichen, das er der Welt entgegenstreckte, wie ein Fanfarenstoß, mit dem er seine Unabhängigkeit hinausposaunte. Er entwickelte die gleiche Selbstsicherheit wie Alex, die absolute Überzeugung, ein Anrecht auf einen festen Platz in der Welt zu haben. Ich liebte Steve, aber verstand nie ganz, was in ihm vorging, eine Beschreibung, die übrigens auch ein wenig auf meine Empfindungen Alex gegenüber zutrifft. Die beiden verstanden einander ebenfalls nicht. Was seltsam ist, wenn man bedenkt, wie ähnlich sie sich waren. Wie ähnlich sie sich sind. Vielleicht finden sie jetzt, wo ich fort bin, heraus, warum dem so ist.
    Draußen im Garten hinter dem Haus gibt es einen Zaun, über dessen oberen Rand ein dünner Draht gespannt ist. Im Sommer sitzen auf diesem Draht reihenweise die Schwalben, genau wie zu Hause. Beziehungsweise die Mehlschwalben, falls Lily recht hat … wie auch immer. Es sind richtige Seiltänzer, die sich wie eine Reihe Revuegirls mal hierhin, mal dorthin drehen, mit wippenden Schwänzchen und Köpfchen, und die auf ihrem schmalen Ausguck sogar ab und zu eine Pirouette einlegen und in die andere Richtung gucken, ohne dass dabei je einer von ihnen herunterfällt. Vergangene Woche, als es kalt war, hockten die Vögel mit aufgeplustertem Gefieder auf ihrem dünnen Draht und reckten ihre weißen Brüstchen dem scharfen Wind entgegen, der vom Meer heraufblies.
    Als Steve ein kleiner Junge war, flog einmal ein Vogel gegen die Fensterscheibe unseres Wohnzimmers. Das kam öfter vor, wenn die Vögel ums Haus schwirrten: Sie sahen durch das Glas hindurch und merkten nicht, dass es ein Hindernis war. Dann lagen sie benommen auf dem Gartenweg, manchmal sogar bis zu einer Stunde, und gerade wenn man die Hoffnung aufgegeben hatte, rührten sie sich ein bisschen, erwachten allmählich aus ihrer Bewusstlosigkeit, spreizten die Flügel, ehe sie wieder, das Köpfchen an die Brust gedrückt, zusammenzusinken schienen. Aber dann flogen sie plötzlich auf und davon, flogen in den Himmel. Es erschien mir jedes Mal wieder wie ein kleines Wunder.
    Doch an jenem Tag blieb der Vogel auf dem Gartenpfad liegen, die Flügel halb gespreizt, als würde er sich noch im Flug befinden, aber seine Schwanzfedern standen in einem merkwürdigen Winkel vom Körper ab. Es war das erste Mal, dass Steve so einen Vorfall beobachtet hatte, und nun kam er zu mir gelaufen, um mich zu holen, und in seine Bestürzung mischte sich die Aufregung, dass er derjenige war, der mir diese große Neuigkeit erzählen konnte.
    »Mummy, Mummy!«, brüllte er aufgeregt, während seine robusten kleinen Schuhe auf dem Weg zur Küche über das Holz des Dielenbodens hämmerten. »Mummy!« Er riss die Tür auf.
    »Was ist passiert, Stevie?«, rief ich erschrocken und lief zu ihm hin. »Was ist passiert? Ist was mit Josie?«
    »Nein«, sagte er, und mein Herzschlag beruhigte sich. Josie schlief noch, war in Sicherheit. Dann kniete ich mich neben ihn, rieb mit der Hand sachte über seine kleine Brust. »Vogel … Mummy … draußen«, keuchte er, und ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Er konnte kaum sprechen; seine Worte überschlugen sich, kamen in der falschen Reihenfolge heraus. »Verletzt, Mummy … der Vogel.«
    »Jetzt mal ganz langsam, Stevie«, sagte ich. »Was genau ist passiert?«
    Da nahm er mich an der Hand und rannte durch die Diele, zog mich hinterher, damit ich es mit eigenen Augen sehen konnte. Beide spähten wir hinunter auf das kleine Wesen auf dem Gartenweg. Ich sah, wie die Flügel gebogen waren, als wäre etwas gebrochen. Der Vogel hatte die Augen halb geschlossen; ein schwacher Herzschlag war in seiner Brust noch zu erkennen. Aber ich wusste, wie es um ihn stand.
    »Siehst du?«, sagte Stevie.
    »Der arme kleine Vogel.«
    »Mach ein Bettchen für ihn, Mummy.«
    Es hatte keinen Sinn mehr, doch ich holte einen Schuhkarton, legte ihn mit Zeitungen aus und darüber eine Schicht Watte und gab ihn Stevie. Manchmal muss man den ganzen Prozess selbst erleben und aus seinen Erfahrungen eigene Schlüsse ziehen, ohne dass ein anderer einem etwas erklärt. Und

Weitere Kostenlose Bücher