Die verborgenen Bande des Herzens
Umschlagen der Stimmung zu entdecken, doch nach wenigen Augenblicken schon herrscht wieder der gleiche Lärm, das gleiche Stimmengewirr wie vorher. Sean geht Molly hinterher. Ich stelle ein Glas unter den Zapfhahn, damit es in der Zwischenzeit volllaufen kann, und folge Sean.
»Molly, da war gar nichts. Es tut mir leid, wenn ich dich in eine peinliche Situation gebracht habe. Ehrlich, es war überhaupt nicht so, wie es ausgesehen hat. Es war nur ein Jux, ein bisschen Spaß …«
Molly richtet einen harten Blick auf mich, ihre türkisblauen Augen, in denen sich ihre Kränkung spiegelt, wirken eiskalt.
»Spaß? Klar, ich hätte auch gern ein bisschen Spaß. Wie, Sean? Ein bisschen Spaß. Wär das nicht nett? Ich schätze, das ist auch der Grund, weswegen alle Männer hier im Ort so auf dich stehen, Cara May. Keine Verantwortung, keine Verpflichtungen, und jede Menge Spaß.«
»Was?« Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt.
»Ach Gott, Molly«, sagt Sean.
»Du bist genau so, wie sich die Männer eine Frau wünschen, wie, Cara May?«
»Molly …«, wiederholt Sean, diesmal in schärferem Ton.
»Die ach so lustige Witwe«, sagt Molly verbittert und geht zu der Treppe. Ihre Worte gehen mir den ganzen restlichen Abend nicht aus dem Kopf. Ich bin froh, als die Party endlich zu Ende ist und wir zusperren können. Meine Blicke wandern durch das Lokal, registrieren den Flitter der Girlanden, der überall herumliegt, die Mistelzweige auf dem Fußboden, die zerquetschten Beeren, deren Saft auf dem Holz dunkle feuchte Flecken hinterlässt. Sean liegt flach auf einer Bank und schnarcht. Mechanisch räume ich die Gläser von den Tischen, fege den Boden mit einem alten Besen, den man hinter der Tür aufbewahrt. Ich fühle mich innerlich vollkommen leer.
Als ich mit dem groben Aufräumen fertig bin, rüttle ich Sean sachte an der Schulter.
»Sean.«
Er schnarcht weiter, und ich packe etwas fester zu.
»Sean, wach auf, ich gehe jetzt heim. Komm, steh auf, sieh zu, dass du in dein Bett kommst.«
Da wacht er auf, richtet sich mit einem Ruck auf, blickt sich verwirrt um.
»Himmel, Cara.«
»Ich gehe jetzt heim, Sean.«
»Ich fahr dich nach Hause«, bietet er sich an, obwohl er so viel getankt hat, dass er seinen Wagen glatt mit seinem Alkohol fahren könnte statt mit Benzin.
»Nein, das wirst du nicht«, sage ich schnell. »Außerdem möchte ich gern noch etwas laufen. Geh jetzt nach oben in dein Bett. Ich schließe hinter mir ab. Ich habe ja den Reserveschlüssel.«
Sean reibt sich mit der Hand über das Gesicht. »Bist du sicher?«
»Aber ja.«
Sean sinkt auf die Bank zurück.
»Auf jetzt, geh nach oben in dein Bett, Sean.«
»Ja, mach ich«, sagt er. »Mach ich.« Ehe ich die Tür hinter mir schließe, höre ich ihn schon wieder schnarchen.
Der Schnee ist in der kalten Nachtluft gefroren, die oberste Schicht ist ein zuckriger Film aus Eiskristallen. Ich muss an die Zuckermäuse denken, die wir als Kinder so gern naschten. Rosarote Mäuse, grüne Mäuse, in Kristallzucker gewälzte Süßigkeiten. Ein Schauer läuft mir bei der Kälte über den Rücken, da ich nur ganz langsam vorankomme, mich wie Bambi mit kleinen staksenden Schritten auf der trügerischen glatten Oberfläche fortbewege.
Mein Gang ist langsam, meine Gedanken jedoch rasen, spulen die Ereignisse des Abends immer wieder ab, wie im Schnelllauf. Ich fühle mich gekränkt von Molly, völlig missverstanden. Diese neue Frau, die ich eben erst kreiert habe, erfährt bereits wieder Ablehnung. Doch, Moment mal. Michael ist ja auch noch da. Michael, der sich über den Tresen beugt, um mir zu sagen, dass der Traum Wirklichkeit geworden ist. Was empfinde ich für Michael? Ich fühle mich zu ihm hingezogen, wie von einem Gummiband, doch gleichzeitig fürchte ich, dass die Hand, die dieses Gummiband hält, jederzeit loslassen könnte, sodass ich zurückschnellen würde, weit weg von ihm, nie mehr in der Lage, ihn zu erreichen. Jetzt in diesem Moment wünsche ich mir Michaels Nähe, wie gern würde ich jetzt mit ihm dasitzen, einfach ich sein. Wie auch immer dieses Ich aussehen mag.
Die meisten Häuser liegen im Dunkeln, doch einige haben die Weihnachtslichterketten in ihren Fenstern angelassen, die ihr funkelndes Licht, eine Botschaft des Willkommens, nach draußen schicken. Im hinteren Teil meines Hauses brennt Licht. Seltsam. Ich dachte, ich hätte alle Lichter ausgeschaltet, bevor ich ging. Irgendwie gibt mir heute das Haus ein Gefühl des
Weitere Kostenlose Bücher