Die verborgenen Bande des Herzens
anzugehen.
Sein Blick schweift durch das Zimmer.
»Warum hier?«, will er wissen. »Wieso Irland?«
Ich zucke mit den Achseln. »Wieso nicht?«
»Du siehst fantastisch aus.« Sein Gesicht verzerrt sich, und er bedeckt es mit beiden Händen. »Du gehst fort von mir und siehst so verdammt gut aus.«
Es ist mir unmöglich, zu ihm hinzugehen und ihn zu trösten. Ich kann es einfach nicht. Ich wüsste nicht, wie.
»Wie geht es Stevie?«
»Er vermisst dich.«
Ich zögere, habe Angst vor der Frage.
»Lily?«, bringe ich schließlich heraus, mit einer Stimme, die ganz klein und leise geworden ist.
»Schlägt sich tapfer.«
Ich atme wieder aus.
»Sie wohnt jetzt bei mir und Steve.«
Ich traue meinen Ohren nicht. Ich mustere ihn rasch und verstohlen. Meine Mutter wohnt bei Alex. »Bei mir und Steve.« Es klingt wie eine Einheit.
»Sie hat mit dem Trinken aufgehört.«
»Ich sollte öfter von zu Hause weggehen.«
»Sie schwebt in tausend Ängsten wegen dir, Carol Ann.«
Als ich den Namen höre, fühle ich mich ganz elend. Carol Ann. Es ist, als würde ich wieder in die Pflicht genommen.
»Die beiden vermissen dich.«
»Und du?« Ich weiß, meine Stimme klingt verbittert. Ich kann nicht anders.
»Ich vermisse dich auch«, sagt er mit leiser Stimme. »Ich hatte keine Ahnung, wie …«
»Wie was?«
»Wie … kalt … alles ist, wenn du nicht da bist.«
»Mir kam alles ziemlich kalt vor, als ich da war .«
»Ich weiß.«
»Alex, wie sind wir da hineingeraten?«
Er schüttelt stumm den Kopf.
Ich fröstle.
»Ist dir kalt?«
»Ja.«
Er steht auf. »Welche Art Heizung hast du hier?«
Ich muss lächeln, trotz allem. Mein Gott. Mitten in diesem Gespräch will er wissen, wie dieses Haus beheizt wird. Er kann mein Herz nicht zusammenflicken, also repariert er meine Heizung.
»Eine Heizung mit einem Thermostat«, erwidere ich trocken. Ich gehe in die Diele, drehe höher. »Die Heizkörper funktionieren nicht so gut.«
»Hast du einen Schlüssel?«, fragt er.
»Einen was?«
»Einen Schlüssel. Um sie zu entlüften. Man muss die Heizkörper entlüften, damit die Wärme reinkann.«
»Ach, zum Teufel mit den Heizkörpern, Alex.«
Alex wirft mir einen kurzen Blick zu und setzt sich. Wir sitzen nicht nebeneinander.
»Warum können wir nie über das reden, was wirklich wichtig ist?«
»Ich weiß es nicht«, erwidert er. Er sitzt da auf seinem Sessel, mit hängenden Schultern. »Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass es keinen Zweck mehr hat. Wir denken und fühlen ganz anders.«
»Gerade deshalb redet man normalerweise miteinander, Alex.« Mein Ton ist sarkastisch. »Man versucht, für die Betrachtungsweise des anderen Verständnis aufzubringen.«
»Das ist uns aber nie geglückt, oder?«
»Wenn man dem anderen nicht zuhört, klappt es nicht, nein.«
»Ach, und ich habe nie zugehört?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Wohingegen du stets fehlerlos warst, Carol Ann.«
»Nein, ich war nicht fehlerlos.«
»Das kannst du aber laut sagen.«
»Ach, geh doch wieder nach Hause, Alex.«
Einen Moment versuche ich mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn er nun tatsächlich aufstehen und gehen würde. Ist es das, was ich will?
Alex schnalzt vor Missmut mit der Zunge. Wie er da sitzt in seinem Sessel, der Rücken gebeugt, die Unterarme auf die Schenkel gelegt – diese Haltung ist so typisch Alex.
Doch dann bringt ihn vielleicht die resignierte Erkenntnis, dass wir schon wieder im Begriff sind, in das zwischen uns übliche Streitschema zu verfallen, dazu, sich dem Thema zuzuwenden, das nun nicht länger aufgeschoben werden darf.
»Es geht hierbei um Josie, nicht wahr?«, fragt er leise. »Hierbei«, wiederholt er und umfasst mit einer Geste das Zimmer, das ganze Haus.
Allein ihren Namen aus seinem Mund zu hören rührt mich fast zu Tränen. So viel Zeit ist vergangen, seit Josie bei uns war. Eine Ewigkeit. Und doch war es erst gestern. Immer noch beeinflusst sie unser Tun und Denken.
Alex betrachtet seine Schuhspitzen. »Das, was ich getan habe … habe ich getan … weil ich Josie liebte.«
»Du hast mir nicht einmal Gelegenheit gegeben, mich auf meine Art von ihr zu verabschieden«, entgegne ich. »Als ich von ihr wegging, lebte sie, und als ich wiederkam, war sie tot. Du bist dagesessen und hast sie im Arm gehalten, als sie starb. Du hast dir einfach ein Vorrecht genommen, das du mir nicht vergönnt hast.«
Allein es auszusprechen bewirkt, dass der aufgestaute Zorn in mir ein wenig abfließen
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