Die verborgenen Bande des Herzens
über die Lippen, und ich musste dabei unwillkürlich an eine Schlange denken.
»Mackie …«, sagte ich.
»Ja, Schatz.«
»Du kannst mich mal.«
6. Kapitel
Carol Ann
S eine Hände arbeiten schnell und resolut, und die Haarsträhnen fallen in kleinen, weichen Büscheln zu Boden. Er kämpft sich durch das Dickicht meines alten Lebens, bis der Wald sich lichtet und mein neues Leben erahnen lässt.
Ich lief kreuz und quer durch die Stadt, bis ich einen Friseursalon fand, bei dem ich ein gutes Gefühl hatte. Es musste ein Salon sein, der moderner wirkte als jener, den Carol Ann aufsuchen würde. Am Empfang fragt man mich, von wem ich bedient werden will. Clive oder Sarah? Ich wähle Clive, mit gutem Grund. Carol Ann hätte die Frau genommen.
Vielleicht fiel meine Wahl deshalb auf einen männlichen Friseur, weil ich mir etwas erhoffe, was Carol Ann sich nie zu hoffen gewagt hätte: dass ein Mann vielleicht wissen könnte, welche Frisur er einer Frau verpassen muss, damit sie attraktiv aussieht. Eigentlich logisch, oder? Oder nicht? Offenbar bin ich so verunsichert, dass ich nicht mehr weiß, wie ich über solche Dinge denken soll. Aber ein Mann, der sich zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlt, müsste doch eigentlich wissen, welche Merkmale man bei einer Frau betonen sollte, nicht wahr? Wenn man bei einer Frau die Augen schön findet, verpasst man ihr eine Frisur, wie Audrey Hepburn sie hatte. Und wenn man ihren Mund schön findet, entscheidet man sich für eine üppige Lockenmähne, wie die junge Brigitte Bardot sie einst trug. Was mich betrifft, so hat bisher anscheinend keiner irgendetwas schön an mir gefunden, denn ich sehe aus wie der Bobtail aus der Dulux-Werbung.
Der Friseur ist jung und betont seine schmalen Hüften mit knallengen Jeans. Er trägt ein rauchblaues T-Shirt und hat die Ärmel hochgeschoben, wie …
»Und was machen wir heute?«, fragt Clive mein Spiegelbild, fährt mit den Fingern durch mein Haar und beäugt es kritisch, als wäre es etwas Eigenständiges, das nichts mit mir zu tun hat. Ich spüre den leichten Druck seiner Finger auf meiner Kopfhaut, sie fühlen sich kompetent an, geschickt. »Am Oberkopf wirkt es etwas zu schwer, nicht wahr? Man müsste ein bisschen Form hineinbringen.«
Ich nicke. »Soll es kurz werden, oder bleiben wir im Großen und Ganzen bei der Länge?«, will er von mir wissen.
Es gefällt mir, die Art, wie er »wir« sagt, als würden wir uns als ein Team dieser Aufgabe stellen. Als hätte ich jemanden, der mir zur Seite steht.
»Ich möchte …«, sage ich und halte dann plötzlich inne, während ich mein Spiegelbild betrachte. Ich habe keine Ahnung, was ich will. Da hört er auf, an meinen Haaren herumzufingern und schaut mich an. Nicht kritisch oder abschätzend, eher abwartend. Ich schenke ihm ein Lächeln. »Ich möchte ein bisschen mehr …«
»Pep?«, sagt er.
»Sex Appeal«, sage ich gleichzeitig.
Beide müssen wir lachen.
»Falls das überhaupt möglich ist«, füge ich hinzu. Es überrascht mich, dass die Worte, die in meinem Kopf kreisten, ihren Weg nach draußen gefunden haben. Carol Ann würde sich winden, wenn ihr so etwas über die Lippen gekommen wäre. Ich bin heilfroh, dass sie nicht hier ist.
Er erwidert mein Lächeln. Er versteht mich. So ist es nun mal: Männer, die dafür bezahlt werden, dass sie die Frauen verstehen, die bringen es eben. Ärzte, Psychiater, Friseure. Erst wenn die Liebe ins Spiel kommt, laufen die Dinge aus dem Ruder.
»Ich will völlig anders aussehen«, erkläre ich nun mit fester Stimme. »So, dass man mich nicht wiedererkennt.«
Er hat keine Ahnung, dass ich das wörtlich meine.
»Steht wohl ein Geburtstag an? Eine besondere Feier?«
»So was Ähnliches.«
»Überlassen Sie alles mir«, sagt er, und das ist genau der Satz, den ich hören will. Wir beide sind zwar ein Team, doch jetzt, wo er weiß, was ich will, wird er die Dinge in die Hand nehmen. Überlassen wir also ruhig alles ihm.
Er singt während der Arbeit leise vor sich hin, kennt zu jedem Song im Radio den Text. Es ist nicht so, dass er um mich herumtänzelt, das wäre eine Übertreibung, aber seine Bewegungen verraten mir, dass er ein gutes Rhythmusgefühl besitzt. Während ich ihn im Spiegel beobachte, ertappe ich ihn dabei, wie er Blickkontakt aufnimmt mit einer der jungen blonden Kolleginnen, die gerade einer Kundin die Haare wäscht. Sie hat einen langen Pony, der ihr fast über die Augen fällt, und die Art, wie sie darunter
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