Die verborgenen Bande des Herzens
sind aneinander gebunden, Carol Ann«, sagt er mit leiser Stimme. »Ich kann dieses Band nicht zerschneiden, kannst du es? So ist es nun einmal.«
»Ich weiß«, sage ich unter Tränen. Ich muss mich der Realität stellen und trauere bereits den Dingen nach, die ich zurücklassen muss, den Knospen, die jetzt nie die Chance erhalten werden, sich zu entfalten. Harry. Sean. Michael. Unabhängigkeit. Träume. Das Strandhaus. Ein völlig neues Leben. Und vielleicht trauere ich bereits um mich selbst, um den neuen Menschen, der ich geworden bin. Ich weiß nicht, ob es diese Cara in meinem alten Leben weiter geben wird. Vielleicht wird diese Frau sich einfach auflösen und wieder Carol Ann werden. Ich weiß es einfach noch nicht.
Aber ich will nicht wieder Carol Ann sein. Ich will mich nicht mit ihrem armseligen Dasein zufriedengeben. Ich will nicht zurück, nur weil es irgendwelche vertrauten Bande gibt, die ich aus lauter Angst nicht zu kappen wage. Der Impuls aufzubegehren regt sich in mir. Ich habe die Wahl, ich kann mich so oder so entscheiden, diese Möglichkeit besteht immer. Ich drehe mich von dem Fenster weg und stelle mich ihm, was ich bisher nur selten getan habe.
»Du hattest eine Geliebte«, konfrontiere ich ihn.
»Was?«
»Ach, komm schon, Alex. Wenn wir jetzt nicht ehrlich zueinander sein können, gibt es für uns keine Hoffnung mehr.«
»Das hatte nichts zu bedeuten.«
»Wie mich das tröstet.« Meine Stimme trieft vor Ironie.
In Gedanken bin ich bei meinem Strandhaus. Der Schnee wird sich auf dem Fenstersims anhäufen, aber er wird nicht lange liegen bleiben. Die salzige Luft, die vom Meer heraufströmt, wird dafür sorgen. Ich stelle mir das Haus vor, wie es dunkel und still auf dem Hügel steht, und denke an Michael, wie er morgen dort auf mich warten wird, voller Erwartung und Eifer. Er will mir die Verwirklichung eines Traums zeigen, der, wie er nicht wissen kann, bereits wieder zerstört ist.
Hoffen, Wünschen, diese Regungen sind wie der Schnee. Sie liegen greifbar vor dir, all die Möglichkeiten, die sich vor dir auftun, sie sind wunderschön anzusehen. Doch schon im nächsten Moment, wenn du die Hand ausstreckst und eine einzelne Schneeflocke berührst, schmilzt sie dahin, als hätte es sie nie gegeben. Nur ein kleiner Tropfen Schmelzwasser bleibt übrig, Bodensatz dessen, was hätte sein können. Hoffen, Wünschen, diese Regungen sind flüchtig, vergänglich, sie verändern sich, wie eine Landschaft im Lauf der Jahreszeiten, sind abhängig von der Zeit und der Stimmung und unterliegen einem ständigen Wandel.
Michael. Alex. Wer von den beiden ist das Ziel meines Hoffens, Wünschens? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich möchte meine Hand nach Michael ausstrecken. Der Wunsch ist immer noch da. Aber vielleicht ist Michael wie eine Schneeflocke. Wunderschön, doch nicht wirklich da, nicht wirklich greifbar, in einem substanziellen Sinn. Oder bin ich verwirrt? Ist es Alex, der nicht wirklich greifbar ist? Einen kurzen Moment erwäge ich, ob ich ihm von Michael erzählen soll. Aber was gibt es da schon zu erzählen? Nichts ist passiert. Oder doch? Ich frage mich, ob Untreue tatsächlich nur etwas Körperliches ist. Vielleicht hat wahre Untreue gar nichts mit Sex zu tun. Vielleicht bedeutet wahre Untreue, mit jemandem gemeinsame Träume zu haben.
»Sie war nur … es war nur…«, stammelt Alex.
»Es war was , Alex?«
»Ich weiß es nicht.« Er fährt sich mit der Hand durch das Haar, eine Geste der Verzweiflung, in die sich Missmut mischt.
»Hast du sie geliebt?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wieso, natürlich nicht?«
»Weil ich dich liebte, aber …«
»Aber …?«
»Nichts.« Er setzt sich neben mich, legt seinen Ellbogen auf die Armlehne der Couch, doch er neigt sich von mir weg.
»Aber was, Alex? Was glaubst du denn, warum wir in diesem Schlamassel stecken? Weil wir nie miteinander reden. Komm schon, du hast mich also geliebt, aber …?«
»Ich war wütend.«
»Aha, jetzt kommen wir der Sache näher. Warum? Warum warst du wütend?«
»Wegen Josie«, sagt er, so leise, dass meine Streitlust verfliegt. »Weil ich sie beschützen wollte und es nicht konnte. Und ich hatte Angst. Angst vor ihrem Leiden und vor ihrem Sterben. Und nachdem sie tot war, konnte ich mit all diesen Dingen nicht mehr umgehen. Mit der Tatsache, dass wir sie verloren hatten. Mit dem, was ich getan hatte. Mit dem, was ich dir und mir damit angetan hatte. Und am wenigsten … am allerwenigsten ging es um diese
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