Die verborgenen Bande des Herzens
andere Frau.«
»Nicht für mich.«
»Ich weiß«, sagt er leise. »Ich weiß.«
Schweigen breitet sich aus.
»Dadurch, dass ich fremdgegangen bin, habe ich alles andere vergessen können«, sagt Alex nach einer Weile und dreht sich zu mir her. »Eine Zeitlang.« Seine Stimme wird noch leiser. »Es verschaffte mir das Gefühl, wieder irgendwie lebendig zu sein, in einer künstlichen Welt, einer Welt, in der es dich und mich und Stevie nicht gab. Und Josie auch nicht. Vor allem Josie nicht. Keinen von uns gab es. Und das, was ich getan hatte, existierte auch nicht.« Ich spüre seinen Blick, seine Augen, die mich bitten, ihn anzusehen. Ich wollte eine emotionale Distanz einhalten, daher hatte ich auch den Augenkontakt mit ihm bis jetzt vermieden, doch nun bringt mich sein Flehen dazu, seinen Blick zu erwidern.
»Kannst du das nicht verstehen, Carol Ann? Kannst du das nicht verstehen ? Wir sind beide weggelaufen … nur halt auf unterschiedliche Weise.« Seine Stimme ist immer leiser geworden. »Das war eben meine Art. Meine Art, mein altes Ich auszulöschen und eine neue Identität zu erschaffen. Eine Zeitlang konnte ich so tun, als hätte mein neues Ich nichts mit meinem früheren Leben zu tun. Ich war zu jemandem geworden, der frei war, dem es möglich war zu wählen, Chancen zu ergreifen. Doch am Ende machte diese Selbsttäuschung alles nur noch schlimmer. Weil ich eben nicht dieser andere Mann war. Unter der Oberfläche des Ganzen war ich immer noch ich. Und ich liebte dich noch. Und Josie war immer noch tot.«
Die Möglichkeit zu wählen, Chancen zu ergreifen. So etwas leuchtet mir ein. Ich begreife es so vollkommen, dass es mich überrascht, dass diese Worte nicht aus meinem, sondern aus Alex’ Mund stammen. Und ich staune über mich selbst, dass ich diejenige gewesen war, die diese Chance für sich ergriffen hat und aus dem tristen, festgefahrenen Leben, dem wir beide ohnmächtig gegenüberstanden, ausgebrochen ist.
»An diesem Abend damals … bei der Weihnachtsfeier«, fährt Alex fort, und ich schließe die Augen angesichts der Erinnerung. »Da wusste ich es. Ich wusste, dass es vorbei ist. Es tut mir leid, dass es … dass du … dass ich dir …« Aber ich öffne nicht die Augen, um ihn anzuschauen, und Alex fängt an zu stammeln und wird immer leiser. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, lausche mit geschlossenen Augen der Stille, die mich allmählich überkommt, als ich plötzlich höre, wie seine Stimme wieder kräftiger wird.
»Nachdem wir an jenem Abend nach Hause gekommen waren, lag ich noch lange da in dem dunklen Schlafzimmer und hatte das Gefühl … gestorben zu sein. Alles war gestorben. Und ich wollte sie so sehr zurückhaben, ich wollte Josie zurückhaben, gleich hinter der Wand war ihr Kinderzimmer …«
»Hör auf.« Ich halte immer noch die Augen geschlossen, als könnte ich dadurch Alex aussperren. Doch seine Stimme dringt weiter an mein Ohr, sanft, eindringlich.
»Sie war wunderschön, Carol Ann. Sie war unser Kind, und sie war wunderschön, nicht wahr?«
Eingehüllt in meine eigene Dunkelheit vernehme ich trotzdem das Beben in seiner Stimme. Eine Träne stiehlt sich aus meinen geschlossenen Augen, und eine Sekunde später spüre ich, wie sein Finger über meine Wange streicht und sie fortwischt. Und ich weiß, ich muss jetzt die Augen wieder öffnen. Sie öffnen und ihn ansehen.
»Ja, das war sie. Sie war unglaublich schön.«
»Und ich kann nicht … was ich eigentlich sagen wollte …« Er unterbricht sich, ringt um Fassung, ergreift meine beiden Hände, und diese Berührung löst ein Gefühl der Erleichterung in mir aus, und eine Sehnsucht, eine Sehnsucht nach seiner vertrauten, beruhigenden körperlichen Nähe. »Was ich sagen wollte, ist, dass ich den Gedanken nicht ertrage, dass etwas, das für uns beide so wunderschön war, uns am Ende zerstört hat. Das darf nicht sein. Es ist einfach nicht richtig. Weißt du, Josie … sie liebte uns … sie liebte uns beide … wir schulden … wir schulden es ihr …«
Der Klang von Alex’ Stimme hat mir die Sprache geraubt, und jetzt stürzen mir stumme helle Tränen aus den Augen, strömen mir über die Wangen. Reinigende Tränen, die den Kummer und die Wut und all den Groll wegspülen, die sich in all den Jahren tief in mir angesammelt, aufgestaut haben zu einem trüben, ätzenden Schlick. Ja, Josie war wunderschön, und sie war unser Kind. Und Alex hat recht. Welch Ironie, wenn Josie uns zerstören würde.
»Carol Ann,
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