Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
Vom Netzwerk:
fängt mit einem kleinen Eiszapfen an, der immer weiter in die Länge wächst, bis ich das Gefühl habe, dass ein gigantischer Stalaktit aus Eis meinen ganzen Körper durchzieht und seine Kälte über meine Beine bis in meine Zehenspitzen schickt.
    »Ich darf Informationen nur herausgegeben, wenn Sie eine Angehörige sind. Sind Sie mit der Patientin verwandt?« , fragt die Stimme am Telefon. Der Ton ist resolut, geschäftsmäßig.
    »Ja, ich bin … sie ist meine Schwester.« Ach verdammt, nein. Wie dumm von mir. Meine Stimme klingt zu jung.
    »Ich meine, die Schwester meiner Mutter«, beeile ich mich zu sagen. »Sie ist die Schwester meiner Mutter. Meine Tante Lily.«
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    »Verzeihen Sie, ich bin so aufgeregt, völlig durcheinander.«
    »Wie heißen Sie«, fragt die Stimme in misstrauischem Ton.
    »Bitte …«, sage ich flehentlich. »Geht es … geht es ihr gut?«
    »Es … geht ihr den Umständen entsprechend, und sie hat auch schon gewisse Fortschritte gemacht. Was soll ich ihr sagen, wenn sie wissen will, wer angerufen hat?«
    »Sie brauchen ihr nichts auszurichten«, entgegne ich und lege schnell den Hörer auf.
    Sie lebt. Meine Erleichterung ist grenzenlos.
    Als Stevie noch ein kleiner Junge war, hatte er ein Spiel, zu dem ein kleiner Hammer gehörte. Krokodilköpfe aus Plastik schnellten aus kleinen Boxen nach oben, und der Spieler musste versuchen, mit seinem Hämmerchen möglichst schnell auf die Köpfe einzuschlagen. Sobald er einen getroffen hatte, schnellte aus einer anderen Box wieder ein Kopf nach oben, dann waren es zwei auf einmal, dann drei, sodass der Spieler immer schneller reagieren musste. Bei dem Spiel ging es darum, die Reaktionsfähigkeit und Koordination der kleinen Hände und Finger zu trainieren. Es machte mir Spaß, Stevie zu beobachten, wie er mit ernster, konzentrierter Miene heftig auf die Köpfe einschlug, wobei sein Patschhändchen den kleinen Hammer fest umklammerte. Genauso komme ich mir jetzt vor, als würde ich versuchen, meine Erinnerungen niederzuschlagen, doch meine Bewegungen sind so ungeschickt und unkoordiniert wie die eines kleinen Kindes.
    Ich habe versucht, all die Erinnerungen in ihre Boxen zurückzudrängen. Doch jedes Mal, wenn ich aushole, um eine niederzuschlagen, springt eine andere hoch und noch eine. Zu Hause war mein Leben beherrscht von den Erinnerungen an eine einzige Person. Sie war allgegenwärtig, schwebte beständig zwischen mir und Alex. Aber hier in Irland stürmen alle möglichen Erinnerungen auf mich ein.
    Es ist ein Sonntag im Winter, das Licht ist weich und milde an diesem Spätnachmittag. Lily sitzt in dem großen Ledersessel, hält mein Baby im Arm und summt ihm ein Lied vor, den Eriskay Love Lilt, ein wunderschönes altes Lied von den Hebriden, dessen Text eine Mischung aus Gälisch und Englisch ist. Manchmal höre ich diese Melodie so deutlich, dass ich mich unwillkürlich umdrehe und Ausschau halte nach der Richtung, aus der sie kommt, ehe mir bewusst wird, dass ich sie in mir selbst habe.
    » Bheir me o, horo van o «, sang Lily leise an diesem Nachmittag, und der Refrain dieses Liedes schmiegte sich sanft um das schlafende Baby in ihren Armen. » Bheir me o, horo van ee, Bheir me o, horo ho , Sad am I without thee.«
    Ich stand daneben und bügelte, und das Zischen des Dampfbügeleisens begleitete Lilys Gesang wie ein Percussion-Instrument. Es war ein Lied, das ich aus meiner eigenen Kindheit kannte, Lily hatte es bereits mir als kleines Kind vorgesungen, und so stimmte ich spontan ein. Lily hob freudig überrascht den Kopf und lächelte.
    »Du weißt es noch?«
    »Thou’rt the music of my heart, Harp of joy, o cruit mo chruidh «, sang ich, bis ich den Text nicht mehr weiterwusste.
    »Moon of guidance by night, Strength and light thou’rt to me«, beendete Lily die Strophe.
    Und dann sangen wir gemeinsam den Refrain, während Lily ganz versunken das Baby betrachtete.
    »Du bist so ein hübsches Baby, nicht wahr?«, flüsterte sie ihm zu. »Nicht wahr, mein Liebling?« Mein Dampfbügeleisen glitt zischend über den Strampler vor mir auf dem Bügelbrett. »Aber ja, aber ja. So was Hübsches. Nicht wahr?«
    Während ich Lily durch die Dampfwolke betrachtete, ging mir der Gedanke durch den Kopf, wie friedlich und entspannt sie aussah, fast glücklich. Ich hatte ein Gefühl, als würde sie beim Anblick des Babys in ihren Armen an mich denken, als würde sie empfinden, dass das Leben ihr eine zweite Chance

Weitere Kostenlose Bücher