Die verborgenen Bande des Herzens
glaube nicht, dass sie enttäuscht ist.
20. Kapitel
Carol Ann
I ch liebe McGettigan’s Bar. Ich liebe das Derbe, Unpolierte, das dieses Pub ausstrahlt. Die zerkratzten Holztische; das trübe gelbliche Licht aus den verstaubten nackten Glühbirnen an der Decke. Das Scharren von Schuhen auf Holzdielen. Ich liebe das witzige Geplänkel und Gefrotzel und Seans nicht böse gemeinten Neckereien. Weil jetzt Sommer ist und sich Urlauber von dem Campingplatz ein Stück außerhalb des Dorfes unter die Gäste mischen, hat Sean bis in die frühen Morgenstunden geöffnet, wenn seine Gäste das wünschen. Niemand kümmert sich weiter darum. Er zieht die Vorhänge vor den Fenstern an der Straßenseite zu, sodass die Garda, die Polizei, vom Streifenwagen aus das Licht nicht sehen kann. Einmal kamen sie doch, der Morgen dämmerte bereits. Sean hörte, wie der Wagen vor dem Haus hielt, und spähte durch einen Spalt im Vorhang.
»Garda«, sagte er nur, und augenblicklich wurde es totenstill im Gastraum.
Die Polizisten hämmerten an die Tür, aber wie sich herausstellte, waren sie nur auf der Suche nach irgendeinem Kleinganoven, der zuletzt fünf Meilen entfernt von unserem Dorf gesehen worden war.
»Wird wohl langsam Zeit, für heute zuzusperren«, meinte dann einer der Polizisten, und Sean nickte.
»Klar, gerade eben haben wir uns das Gleiche gedacht.«
Die Polizei zog wieder ab, und kaum war sie weg, schaute Sean seine Gäste an und grinste dann übers ganze Gesicht.
»Was darf ich euch noch einschenken?«, brüllte er. Und im Lokal brach lauter Jubel aus.
Die Polizei hält sich im Großen und Ganzen heraus. Zumindest, solange es keinen Ärger gibt. Sie weiß, Menschen wie Sean verdienen in diesen Sommermonaten zwei Drittel ihres Jahreseinkommens. Sean findet, ich bin gut fürs Geschäft. Die alten Männer mögen mich und umgekehrt. Ich komme mir in ihrer Gegenwart nicht vor wie eine leicht übergewichtige Frau in den Vierzigern. Im Gegenteil, sie geben mir das Gefühl, wie Marilyn Monroe zu sein.
Natürlich gab es Getuschel, als ich dort zu arbeiten anfing. Gespräche, die mitten im Satz abgebrochen wurden, sobald ich in die Nähe kam. Doch wenn dann der Alkohol immer reichlicher floss, wurden auch die Zungen lockerer.
Eines Abends hörte ich, wie der alte Davie Sean ausquetschen wollte. »Deine neue Barfrau«, sagte er, »was macht die eigentlich hier in unserer Gegend?«
Sean legte den Finger an den Mund und bedeutete ihm, leise zu sein, dann flüsterte er ihm etwas ins Ohr, woraufhin Davie ausrief: »Mein Gott, die findet doch schnell wieder einen Neuen, so ein hübsches Ding wie die da.«
Sean drehte sich zu mir herum und bat mich mit einem Blick um Entschuldigung. Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
Die alten Jungs mögen es, wenn ich keck und frech bin und mir nichts gefallen lasse. Mir gefällt es auch, wenn ich so bin. Wenn man sich festgefahren hat im Leben, sich eingeschränkt fühlt, weil andere, oder auch man selbst, bestimmte Erwartungen haben, wie man sich zu verhalten hat, glaubt man, seine Persönlichkeit nicht ändern zu können. Doch inzwischen weiß ich, dass das durchaus möglich ist. Man kann nach Belieben kleine Teile seiner Persönlichkeit wegnehmen oder hinzufügen. Hat man sich einmal innerlich befreit, kann man tun, was man will.
Jeden Tag arbeite ich an meiner neuen Persönlichkeit. Ich sage zu mir, Cara May ist eine selbstbewusste Frau, die nicht auf den Mund gefallen ist und bei jedem den richtigen Ton findet. Und das bin ich auch, denn ich kann einfach so sein, wie ich sein möchte. Ich bin keinem Erwartungsdruck mehr ausgesetzt. Doch wenn jemand, den ich in meinem alten Leben gekannt habe, aufkreuzen und mich ansprechen würde, würde ich, dessen bin ich mir sicher, augenblicklich wieder klein werden, mich wieder in Carol Ann verwandeln. Allein der Klang ihres Namens würde ausreichen. Wenn ich zu viel über sie nachdenke, werde ich wieder diese Frau. Ich kann es mir nicht leisten nachzudenken. Jeden Tag knalle ich Türen zu, verbanne ungewollte Gedanken.
Es war genial von mir, Sean zu erzählen, mein Mann sei gestorben. Praktisch ist er das ja auch für mich. Damit ist das Ganze ein für alle Mal abgeschlossen. Und es hält die Leute davon ab, allzu viele Fragen zu stellen. Sie sprechen dieses Thema nicht an, weil sie alte Wunden nicht aufreißen wollen, und sind besonders nett zu mir. Und obendrein kann ich positive Gefühle meinem Mann gegenüber hegen. Eine Witwe, die ihren
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