Die verborgenen Bande des Herzens
vielleicht kurz mit hereinkommen? Eine Tasse Tee trinken, vielleicht?«
»Nein. Danke«, fügt er dann hinzu. Er kann sich nicht so schnell bewegen, wie er möchte, sein Körper lässt es nicht zu. Sein Gehstock liegt neben ihm auf der Erde, und er greift danach, um mit seiner Hilfe aufzustehen. Ich fasse ihn am Ellbogen, helfe ihm behutsam auf.
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände gemacht habe«, sagt er. Er hat mich noch kein einziges Mal angesehen.
»Überhaupt nicht«, erwidere ich. »Bitte, setzen Sie sich nicht hinters Steuer, wenn Sie so … aufgewühlt sind. Kommen Sie doch mit zu mir und ruhen Sie sich ein paar Minuten aus.«
Aber er schüttelt ablehnend den Kopf.
»Danke«, sagt er. »Es wird mir gleich wieder besser gehen.« Dann macht er sich humpelnd auf den Weg zum Ausgang, und ich folge ihm. Auch wenn ich mir unnütz vorkomme, bleibe ich neben seinem Wagen stehen, während er sich langsam in den Fahrersitz gleiten lässt. Dann geht die Tür mit einem Knall zu. Nach mehrmaligem umständlichem Wenden steht sein Wagen endlich so, dass er wieder in die Straße einbiegen kann, und ich sehe ihm nach, wie er in die Nacht hinausfährt.
Wenn Splitter meines alten Lebens in mein neues Leben eindringen, schneiden sie wie Glas. Ich versuche, mich gegen sie zur Wehr zu setzen, doch bisweilen durchdringen sie den Panzer meines Willens so mühelos wie ein Messer, das zartes Fleisch durchtrennt. Nachdem der alte Mann weggefahren ist, wird für eine Zeitlang seine Trauer auch die meine. Ich setze mich in meinen Polstersessel und versuche, meine Wehmut zu verscheuchen, durch reine Willenskraft. Ich stelle mir vor, dass ich im Innern einer großen Kiste sitze. Einer Kiste, die viele Türen hat, die ich zuwerfen kann. Niemand kann mich in meiner Kiste erreichen, wenn alle Öffnungen dicht verschlossen sind. Ich stelle mir vor, wie ich langsam die Türen zuwerfe zu all den Menschen, die ich früher geliebt habe … zu allen, die Carol Ann in ihrem Leben gekannt hat. Aber es gibt da ein Gesicht, das ich nicht aussperren kann. Sie kommt und geht, wie sie will, genau wie die Grinse-Katze in Alice im Wunderland . Kaum ist sie da, ist sie im nächsten Moment schon wieder verschwunden.
Und ich höre, während sie kommt und geht, im Hintergrund die Musik, eine Mischung aus Lilys Gesang und dem rhythmischen Zischen des Dampfbügeleisens. »Am Morgen, wenn fort ich zieh … am Morgen, wenn fort ich zieh …«, doch die nächste Zeile will mir partout nicht einfallen. Wohin ziehe ich?
Jeden Morgen wache ich in aller Früh auf und mache einen Spaziergang, hinaus in die frische Luft, die an manchen Tagen bereits nach dem nahenden Herbst riecht. Ich schlage die Richtung zum Meer ein, ich will unbedingt den Sonnenaufgang über der Strandhütte sehen, das Licht, rein und klar, wie frisch gewaschen vom Tau, und jeden Morgen wieder wünsche ich mir, so sauber sein zu können wie das Licht, wie neugeboren. Während ich die weißen Schaumkronen betrachte, die vor mir auf den Wellen tanzen, fällt mir plötzlich die Liedzeile ein, die ich vergessen hatte: »Am Morgen, wenn fort ich zieh, hinaus aufs weite Meer, im Klageruf der Robbe dein leises Rufen ich hör.«
Manchmal gehe ich morgens in den Dorfladen und kaufe mir weiße flaumige Brötchen. Ich wandere um den Hügel herum und über die Dünen, und auch wenn ich das Meer nicht sehen kann, höre ich es dennoch im Hintergrund flüstern, es ruft leise nach mir, immer wieder. Und in dem Flüstern höre ich, klagend und unmissverständlich, Josies Stimme.
19. Kapitel
Karen
W ährend ich über den Gartenweg zum Haus gehe, höre ich, dass Lily wieder die Sinatra- CD eingelegt hat. Vor ein paar Tagen, als ich mich nach meinem letzten Besuch hier verabschiedete, spielte sie ihn auch. Vielleicht hat sie seitdem nonstop Frankie-Boy gehört, denke ich bei mir. Den Schmachtfetzen aus den frühen Sechzigerjahren. I’ve got you … under my skin, I’ve got you, deep in the heart of me …«
» Under my skin «, summe ich mit. Ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken. Ich drücke auf die Klingel.
» So deep in my heart that you’re really a part of me, I’ve got you under my skin.«
Alex macht mir auf. Es ist ungefähr acht Uhr abends, vielleicht schon halb neun. Als er mich sieht, lehnt er den Kopf an die Tür.
»Wenn ich mir diesen blöden Song noch einmal anhören muss …«, sagt er.
Er tritt einen Schritt zurück, um mich vorbeizulassen.
»Wer issn das?«, höre ich
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