Die verborgenen Bande des Herzens
Geste, die er sich neuerdings angewöhnt hat.
»Dann glauben Sie also, dass Carol Ann tot ist?«, frage ich in scharfem Ton.
»Was wollen Sie denn jetzt schon wieder andeuten?«
Er wirkt heute wie ein Bär mit Kopfschmerzen. Wie er sagt, hat er nicht gut geschlafen.
»Sie haben das Ouija-Brett erwähnt. Man nimmt es her, um Kontakt mit den Verstorbenen herzustellen.«
»Ach verdammt, hören Sie doch endlich auf, Miss Marple zu spielen«, sagt Alex gereizt. »Dazu sind Sie weder alt noch scharfsinnig genug.«
Er geht ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer, dann höre ich, wie die Toilettentür ins Schloss fällt. Kurz darauf ist er wieder da. Lily kommt hinter ihm in den Raum, nickt mir zu.
»Wieso Milchkartons?« fragt er unvermittelt.
»Sie sind im ganzen Land verteilt, stehen in allen Supermärkten.«
»Milch?«, sagt Lily mit einem Stirnrunzeln, lässt sich neben ihm auf dem Sofa nieder.
»Sie wollen Carol Anns Foto auf den Kartons abdrucken«, erklärt Alex, und ich bin überrascht über die Geduld in seiner Stimme. Er klingt tatsächlich so, als sei er ehrlich an Lilys Meinung interessiert.
»Versuch wert«, erwidert Lily. Ihr Sprechvermögen wird immer besser. Bisweilen spricht sie fast schon normal, doch wenn sie müde wird, scheinen ihr die Wörter wieder irgendwie zu entgleiten.
Alex nickt.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagt er müde. Er reibt sich mit der Hand über seine Wange. »Nichts ist mehr privat. Es ist, als würde man sein ganzes Leben auf einer öffentlichen Wäscheleine zur Schau stellen müssen.«
26. Kapitel
Carol Ann
W enn ich mit Harry zusammen bin, ist es, als würde meinem Leben ein Spiegel vorgehalten. Der Spiegel reflektiert nüchtern und leidenschaftslos all die Dinge, die ich nicht sehen will. All das, wovor ich davonlaufe. Ich verdränge es nicht, rede es nicht schön. Das, was ich mache, ist schlicht und einfach Davonlaufen .
Auf dem Nachhauseweg von Harry sehe ich, wie sich meine Trauer und die seine miteinander verflechten. Da ich sein Leben als Außenstehende betrachte, kann ich seine Untreue verzeihen, sie fast verstehen, in einem Maß, wie ich Alex’ Untreue weder vergeben noch vergessen kann. Die Maßstäbe für das Verhalten eines Lebenspartners sind strenger als jene für einen bloßen Freund.
Ich kann Ihnen exakt den Abend nennen, an dem Alex mich zum ersten Mal betrog. Es war vor fünf Jahren. Er sagte, es werde spät werden, er müsse zu einem Geschäftsessen, und ich solle nicht aufbleiben und auf ihn warten. Ich konnte nicht einschlafen. Stevie lag schon im Bett, und ich rollte mich auf der Couch im Wohnzimmer zusammen. Ich hatte den Fernseher eingeschaltet, aber nur, um den Schein zu wahren. Ich könnte Ihnen nicht eine einzige Sendung nennen, die an jenem Abend gelaufen ist.
Es war schon lange nach eins, als er zurückkam, und selbst heute noch weiß ich genau, wie er ausgesehen hat. Er trug seinen dunklen Anzug, jenen, der mir schon immer am besten an ihm gefallen hat, und ein weißes Hemd. Er hatte seine Jacke über die Schulter geworfen und die Manschetten seines Hemds umgeschlagen. Ich schätze, es ist eine Art pawlowscher Reflex, aber immer wenn ich ihn in einem weißen Hemd sehe, muss ich an den Tag denken, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, in einem Café in Glasgow, wo er, pitschnass, vor dem Regen Zuflucht gesucht hatte. Wie auch immer, jedenfalls weiß ich noch genau, dass ich ihn an jenem besagten Abend angeschaut und einen Stich gespürt habe, einen Stich des früheren Begehrens, in das sich Bedauern und ein wenig Verwirrung mischten. Manchmal überkommt mich dieses Gefühl einfach.
Wir hatten in jener Zeit wochenlang nur das Nötigste miteinander geredet. Zwischen uns gab es nur höfliches Erkunden. Austausch praktischer Informationen. Deshalb gab es auch keinen Grund, dass Alex an jenem Abend noch ein Gespräch mit mir anfing, aber zu meiner Verwunderung schien er irgendwie den Drang dazu zu verspüren.
»Noch auf?«, sagte er. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht auf mich warten.«
»Hab ich auch nicht.«
Er nickte, sichtlich unbehaglich.
»Steve okay?«
»Es geht ihm gut.«
»Ich schau noch mal rein bei ihm und sehe nach, ob er schläft.« Sein Blick wich immer wieder dem meinen aus, er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er war nicht einmal voll ins Zimmer getreten, sondern unter der Tür stehen geblieben, vorsichtig, abwartend. Er kam mir so groß vor, und auf einmal spürte ich, dass ich keine einzige
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