Die verborgenen Bande des Herzens
Seine Stimme ist leise, Bitterkeit klingt darin. »Ein einziges Mal ist es uns gelungen, jenes Gefühl von damals in der Nacht am Strand wieder einzufangen, und das war, als sie im Sterben lag. Die Zärtlichkeit zwischen uns … die tiefe Verbundenheit … ich habe es fast nicht mehr ertragen. Erst als ich es verlor, als es zu spät war, erkannte ich, was ich an ihr gehabt hatte.«
Er legt den Unterarm auf das Fensterbrett, verlagert das ganze Gewicht auf ein Bein, um das andere zu entlasten.
»Sie haben es ihr aber doch noch gesagt?«
Ich wage fast nicht, diese Frage zu stellen.
Harry nickt.
»Als wir erfuhren, was ihr fehlte, waren wir beide bis ins Mark erschüttert. Und allmählich – nein, eigentlich nicht allmählich, ganz plötzlich – begannen wir zu reden, genau wie damals vor all den Jahren. Seitdem geht mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf, dass Patsy damals dachte, für sie werde es nur diese eine Nacht am Strand geben, und deshalb hat sie dort all das gesagt, was ihr am Herzen lag. Denn man spricht die Dinge aus, die einem wirklich wichtig sind, wenn man weiß, dass es kein Morgen geben wird, keine andere Gelegenheit. Als unsere Morgen immer weniger wurden, begannen wir endlich, im Heute zu leben.«
»Wie viel Zeit ist Ihnen noch geblieben?«
»Ein Jahr. Nur ein Jahr.« Er schweigt. »Wir haben viel zusammen gelacht«, fährt er nach einer Weile fort. »Sie wären überrascht. Patsy hat dieses Jahr nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie hat weder gejammert noch getrauert. Sie hat das Leben einfach in beide Hände genommen. Sie … ist auf seltsame Weise aufgeblüht.«
Mehr als alles andere treibt mir diese Beschreibung die Tränen in die Augen. So, wie er sie darstellt, war Patsy wie eine kleine Blume, die versucht hat, noch möglichst viele Sonnenstrahlen einzufangen, ehe der Abend kommt und sie ihre Blütenblätter schließen muss.
»Ich sagte vorhin, Patsy hat Glück gehabt. Das denke ich immer noch. Selbst nach alldem, was Sie mir jetzt erzählt haben.«
Harry schüttelt den Kopf, er ist nicht gewillt, von seinem Hass auf sich selbst abzulassen, sich freizusprechen.
»Sie hat nicht das bekommen, was sie verdient hätte.«
»Wer kriegt das schon?«, erwidere ich. »Vielleicht war das, was sie bekommen hat, auch ausreichend für sie. Sie hat bestimmt mehr gekriegt als so manch andere.«
Harry schaut aus dem Fenster, verschränkt die Arme vor der Brust, wendet mir weiter den Rücken zu.
»Ihre Friedhofsbesuche, Harry …«
»Patsy hat die Dunkelheit gehasst«, fährt er leise fort. »Sie sagte, die Dunkelheit ist wie der Tod. Sie hat nachts immer das Licht in der Diele brennen lassen. In ihrem letzten Jahr hat sie beim Schlafen sogar das Nachttischlämpchen angelassen. Deshalb besuche ich sie immer nachts. Ich mache das Licht für sie an.«
Ich fühle mich ohnmächtig, nutzlos.
»Schauen Sie nach Ihrem Besuch immer bei mir rein, Harry, auch wenn es spät sein sollte. Ich freue mich immer, wenn Sie kommen.«
Ich versuche, einen Blick auf meine Armbanduhr zu werfen, ohne dass er es merkt. Vorhin hatte ich fliehen wollen. Jetzt tut es mir leid, dass ich gehen und ihn allein lassen muss. Harry hat recht, wenn er sagt, dass manche Gespräche alles verändern. Ich weiß noch nicht, ob mir das recht ist. Es verwirrt mich. Ich bin hierhergekommen, um Bande zu durchtrennen, Freiheit zu finden, und kaum bin ich hier, bilden sich neue Bande, die mir das Gefühl geben, mich um einen anderen Menschen kümmern zu müssen.
»Harry, es tut mir wirklich leid, aber ich muss jetzt aufbrechen. Ich komme sonst zu spät zu meiner Arbeit. Meine Schicht bei McGettigan’s fängt gleich an. Kommen Sie allein zurecht?«
Er nickt, dreht sich allerdings nicht herum zu mir. Ich weiß, dass ihm Tränen über die Wangen laufen, die ich nicht sehen soll. Ich gehe zu ihm, stelle mich hinter ihn, lehne meinen Kopf an seinen Rücken, lege meine Hand auf seinen Arm. Er rührt sich nicht, hält weiter die Arme verschränkt, aber ergreift mit der Hand meine Hand, die auf seinem Arm liegt, und hält sie fest.
»Pass auf dich auf, Harry«, sage ich und lasse ihn allein am Fenster zurück und gehe durch die hintere Tür nach draußen, wo noch immer die Sonne kalt vom Himmel scheint, wo der Geruch nach Salz und Tang scharf und bitter vom Meer heraufweht.
25. Kapitel
Karen
L ily!«, ruft Alex. »Lily! Willst du was essen?«
Ich bin erst vor ein paar Minuten angekommen, stehe in der Küche und schaue Alex zu,
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