Die verborgenen Bande des Herzens
Immunsystem ist einfach zusammengebrochen.« Plötzlich ertrage ich es nicht mehr, der Gedanke, wie unfair das alles war, überspringt all die Jahre und ergreift wieder Besitz von mir. Ich schiebe meinen Teller weg, lasse den Kopf auf die Arme sinken.
»Nein«, sagt Harry und versucht, mich sachte aufzurichten. »Nein, denk nicht auf diese Weise an sie. Erzähl mir, wie sie war, als sie noch lebte.«
Wie war Josie? Am liebsten würde ich sagen, sie war ein kleines Elfenkind, weiß, fein und zart, fast durchscheinend. Am liebsten würde ich sagen, sie hatte einen Teint wie eine weiße Lilie, und Augen, die dunkel und zeitlos waren – überhaupt nicht die Augen eines Kindes – und ein Herz, das Geheimnisse kannte, von denen die anderen nur träumen konnten.
Aber natürlich sage ich das alles nicht. Stattdessen berichte ich sachlich, dass Josie einfach ein kleines Mädchen war wie alle anderen auch, außer dass ihre Haut unnatürlich blass war, weil sie ständig krank war, und dass sie vielleicht ein bisschen stiller, ein bisschen nachdenklicher war als andere Mädchen ihres Alters.
Josie zerriss mir das Herz, als sie auf die Welt kam, riss es glatt in zwei Hälften, als wäre es aus Papier. Sie kam mir vor wie ein mageres kleines Küken, das zu früh auf die Welt gekommen war; matt und schwach lag sie in ihrem Brutkasten, man hätte fast meinen können, sie habe keine Wirbelsäule, die ihren Körper gestützt hätte, und ihre Arme und Beine waren mit einem weichen hellen Flaum überzogen. Ihre Fußgelenke waren so dünn wie mein Ringfinger. Der Brutkasten war ihr Nest, und wenn ich durch die Glasscheibe schaute, hielt ich die Luft an. Ich konnte nicht atmen, so sehr liebte ich sie.
In den ersten Tagen schlief sie die meiste Zeit, aber hin und wieder ging eine Bewegung durch ihren Körper, dann zuckten ihre Arme und Beine so plötzlich, als hätte man elektrischen Strom durch sie hindurchgejagt. Und jedes Mal, wenn das geschah, hielt ich vor lauter Angst die Luft an und atmete erst nach einer Weile langsam wieder aus. Alex ertrug es nicht, Josie so zu sehen. Unversehens war er zu einem gebrochenen Mann geworden.
Ich redete nur flüsternd mit ihr, als könnte bereits der Klang meiner Stimme sie zerbrechen. Manchmal streckte ich zaghaft den kleinen Finger aus und strich damit sachte über ihre Wange, aber ich hatte Angst, sie richtig zu berühren. Stevie war damals vier Jahre alt, mollig, mit Grübchen in den Wangen. Wenn er mich umarmte, schlang er seine dicken Ärmchen um meinen Hals, sein blondes Haar fiel ihm in die Augen, und ich konnte nur staunen, was für ein robustes Kerlchen er war. Er warf sich ungestüm in meine Arme, und wenn er dabei mit dem Kopf gegen meinen Schädel knallte, brüllte er aus Leibeskräften und rieb dann einfach mit der Hand über die schmerzende Stelle, bis die Tränen zu einer Mischung aus Schluckauf und leisem Wimmern versiegten und das Weinen schließlich aufhörte, weil ihn schon wieder etwas Neues in den Bann zog, etwas Aufregendes und Wunderbares, nach dem er neugierig die Hände ausstreckte. Ich wusste, er war stark, war gegen alles gefeit. Ich spürte es. Eine Mutter spürt so etwas.
Ich schaute Stevie an, und dann blickte ich in den Brutkasten, wo Josie lag, und das Herz blieb mir stehen. Wenn ich sie so betrachtete, schien es mir ein Ding der Unmöglichkeit, dass sie am Leben bleiben würde. Und natürlich war es nicht möglich. Josie war nur geliehen, wir durften sie nicht behalten. Das Problem war, dass sie, als sie von uns ging, uns alle mit sich nahm, jeden Einzelnen von uns.
Josie. Josie. Ich träume wieder von ihr, meine Nächte sind nicht länger friedlich. Unten am Meer höre ich, wie sie weint, höre in dem Geschrei der Möwen dieses klagende Weinen, das ich nie zu trösten vermochte. Nach so vielen Jahren des Schweigens kommt Josie jetzt wieder zu mir, wenn ich bei dem kleinen blauen Strandhaus bin, ihr Wesen, das, was sie ausmachte, kommt zu mir, getragen vom Wind, genauso, wie er den Salzgeruch vom Meer mitbringt. Ich spüre den Geruch auf der Zunge, bitter und salzig, er schmeckt wie Versagen. Ich habe versagt, ihr gegenüber, ich habe Josie, meinem Liebling, meinem winzigen kleinen Mädchen nicht helfen können. Ich konnte sie nicht beschützen, so, wie eine Mutter ihr Kind beschützen soll. Ich ließ sie gehen, und jetzt ist sie wiedergekommen, jetzt ist sie in mir und wütet und tobt in mir drinnen wie der schlimmste Sturm.
31. Kapitel
Karen
S o, jetzt
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