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Die verbotene Pforte

Die verbotene Pforte

Titel: Die verbotene Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. »Was ist das?«
    Es war Tobbs’ Jacke. Entschlossen marschierte sie direkt auf das Fenster zu. Bei jedem Schritt wippte sie in der Luft. Der Ärmel schlenkerte vor und zurück. Jamie wurde noch blasser. »Das … gibt es doch nicht«, stammelte er. »Oder ist das etwa … Oh Gott … doch nicht etwa die Gemeuchelte Megan?«
    Anguana und Tobbs packten in stummem Einverständnis jeder eine Hand von Jamie und zerrten ihn aus dem Raum. »Halt, mein Mantel!«, schrie Jamie. »Und meine Schuhe …«
    »Keine Zeit«, gab Anguana zurück. Zu dritt stolperten sie die lange Treppe hinunter zum Ausgang. Jamie verzog das Gesicht, als er die spitzen Steine auf dem Kiesweg unter seinen bloßen Füßen spürte.
    »Zu spät!«, flüsterte Anguana. Tobbs spähte zum Waldrand. Eine Gruppe von Dorfbewohnern hatte sich auf der Wiese versammelt. Sie steckten die Köpfe zusammen und diskutierten, fuchtelten mit den Händen und schienen sich nicht einig zu werden. Nachtmütze hielt die Jacke am Seil.
    »Schnell! In die Hecken und dann zum Meer«, befahl Anguana. »Sie schauen gerade nicht her.«
    Mehr stolpernd als rennend umrundeten sie das rote Herrenhaus.
    »Was … wollen die?«, fragte Jamie. Tobbs antwortete nicht, sondern schubste ihn weiter. Doch als das Meer in Sicht kam, blieb Tobbs wie erstarrt stehen.
    Auf Jestans Rücken saß Sid und klammerte sich am Nackenfell seines Onkels fest. Im Hintergrund glitzerte das endlose Meer. Es war in der Tat ein atemberaubender Anblick: der Engel und das Ungeheuer. Doch das, was Tobbs einen richtig gemeinen Stich in die Brust versetzte, war etwas ganz anderes: die Vertrautheit, die zwischen Sid und seinem Onkel spürbar war. So unterschiedlich sie auch aussahen, jeder Blinde erkannte, dass sie eine Familie waren. Verbunden, nicht zu trennen, sie gehörten zueinander, wie Tobbs noch nie zu jemandem gehört hatte. Sogar Dämonen haben eine Familie, dachte er bitter.
    Jestan bellte und das Meer kam in Bewegung. Der Schaum auf den Wellenbergen wurde erst dunkelgrün, dann schwarz. Das Wasser stieg so hoch, als würde ein Sturm toben. Von einer Sekunde auf die andere trübte Schlamm die See, bleiche Gegenstände durchbrachen die Oberfläche und Tang peitschte wie ein Bündel Schlangen. Der Dämon legte den riesigen Kopf in den Nacken und heulte. Der Ton begann leise und schwoll an, sträubte Tobbs die Haare. Im nächsten Augenblick kroch eine dunkle Masse über den Klippenrand. Sie wälzte sich heran wie eine Schlammwoge und breitete sich über die Wiese aus. Jetzt erkannte Tobbs, was die weißen, blanken Gegenstände waren: Knochen. Ein Menschenschädel, ein Fuß, aber das meiste waren Gräten gewaltiger Fische. Zerfaserte Stricke gesunkener Schiffe, mit Tang behangen, schlängelten sich auf die Wiese. Sie wanden sich, wimmelten und krochen übereinander wie bizarre Seewürmer.
    Jamie sah erst den Schädel an und dann Jestan, der gerade eben seine halb menschliche Gestalt zurückerlangte. Dann kippte er um.
    »Wunderbar!«, zeterte Megan. »Erschreckt ihn nur zu Tode und stehlt mir noch die letzten Stunden mit ihm!«
    Der zerbrochene Rumpf eines vor langer Zeit gesunkenen Ruderbootes rollte über die Wiese, überschlug sich immer wieder und blieb schließlich direkt vor Jestan liegen.
    Sid wandte sich zu Tobbs und Anguana um und winkte ihnen mit einem begeisterten Lachen zu.
    »Geht!«, flüsterte Megan. »Die Kerle, die den Pfarrer begleiten, haben Gewehre dabei.«
    Der Dämonenjunge war inzwischen von Jestans Rücken gesprungen und kam atemlos bei dem bewusstlosen Jamie an. »Habt ihr gesehen, was mein Onkel macht?« Seine Wangen glühten vor Aufregung. »Kannst du reiten, Tobbi?«
    Tobbs rutschte das Herz in die Hose, als er sah, was mit den Gegenständen geschah. Sie krochen zusammen, türmten sich zu einem Haufen. Schlick glitt zwischen Knochenstücke und Muschelschalen, füllte den Schädel und das zerbrochene Boot aus und erhob sich zu einer Form. Beine wuchsen wie vier Säulen in die Höhe, große Herzmuscheln dienten als Hufe, Seetang und das Fischernetz erweckten den Eindruck von Mähnen. Aus noch pulsierenden Quallen entstanden bleiche Augen.
    Als das erste der fünf Pferde die Tangmähne schüttelte, regnete eine salzige Fontäne auf Tobbs herunter. Der Gestank nach Schlick und fauligem Seegras nahm ihm den Atem.
    »Aufsteigen«, grollte Jestan. Mit einem geschmeidigen Satz sprang er auf das Pferd, dem der menschliche Schädel als Stirn

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