Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verbotene Pforte

Die verbotene Pforte

Titel: Die verbotene Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
lassen. Seit Jahrhunderten inspirierte die Exotik der Landschaft die Märchenerzähler, und auf jedem Jahrmarkt in jedem Land gab es mindestens einen Stand, an dem die leuchtend bunten Muscheln aus Tajumeer feilgeboten wurden – oder billige Imitationen, die die Farbenpracht und zarten Strukturen nur stümperhaft nachahmten.
    Und nun lag Tobbs hier am Strand, die Finger im puderweichen Sand vergraben, und staunte. Neben ihm richtete sich Wanja stöhnend auf und klopfte den Sand aus ihrem Pelzmantel.
    »Alles klar?«, krächzte sie und spuckte einige Sandkörner aus. »Das war ziemlich knapp.« Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um.
    Nicht weit von ihnen entfernt saß eine Frau in einem Klappstuhl. Sie trug einen schreiend gelben Bademantel, was die tiefe Bräune ihrer Haut betonte. Ihr Haar war schneeweiß und zu unzähligen Zöpfchen geflochten, die Augen hatte sie hinter einer schwarzen Brille verborgen. Nur die Nase – die leicht gebogene Hexennase – erkannte Tobbs sofort.
    »Ich staune, Iwan!«, sagte die Frau mit tiefer Stimme. »Hätte nicht gedacht, dass du so schnell bist.«
    »Tante Jaga!«, rief Wanja erleichtert und sprang auf die Füße. »Wie lange bist du schon hier?«
    Jaga unterdrückte ein Gähnen und sah auf eine kleine Apparatur an ihrem Handgelenk. Wenn Armbanduhren auch aus Knochen und Mäusezähnen bestehen konnten, war dies vermutlich eine.
    »Lass mich nachdenken. Vor genau vierzehn Stunden bin ich durch die Tür gegangen. Multipliziert mit dem Tajumeer-verfluchte-Insel-Faktor von 130,4 macht es genau … 76,06 Tage. Und ich kann dir sagen, den Urlaub habe ich mir verdient!«
    Sie lüpfte ihre Brille und musterte Tobbs aus scharfen, kieselgrauen Augen. »Und das ist unser Tobbs. Groß geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Was hat er hier zu suchen?«
    »Lange Geschichte«, erwiderte Wanja knapp. »Viel interessanter ist, was du hier auf der verfluchten Insel machst. Wie bist du den Reitern entkommen? Wo ist der Schatz? Haben die Reiter ihn etwa doch …«
    Baba Jaga hob beschwichtigend die Hand und erhob sich umständlich. »Langsam, Iwan. Die Zeit läuft uns hier nicht davon. Wenn ihr keinen Hitzschlag bekommen wollt, solltet ihr erst einmal eure Mäntel loswerden und euch etwas landestypischer kleiden.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und schritt über den flimmernden Sand auf eine Gruppe von Felsen zu, die den Strandbogen säumten. Ihr gelber Bademantel schien in den glühenden Farben des Spätnachmittags zu flirren. Tobbs und Wanja tauschten einen ratlosen Blick.
    »Da stimmt etwas nicht«, murmelte Wanja und wischte sich mit dem Zobelpelzärmel über die Stirn. »Aber sie hat Recht, wir müssen aus der Sonne.«
    Eilig sammelten sie die verstreuten Hämmer und Zangen wieder ein – die kläglichen Überreste von Wanjas Werkzeug, die mit ihnen auf dieser Insel gelandet waren – und folgten Baba Jaga.
    Tobbs’ Wangen glühten, er schwitzte und keuchte, der Sand gab unter seinen schweren Winterstiefeln nach und machte das Vorwärtskommen noch beschwerlicher. Trotzdem konnte er den Blick kaum von der Umgebung losreißen.
    Der Strand glitzerte vor Perlmutt. Schneckenhäuser und Muscheln, vom Sand auf Hochglanz poliert, funkelten in der Sonne. Nach und nach wurde der Untergrund fester, bekam Struktur und mündete zwischen den Felsen in einen Streifen mit trockenem Erdreich, auf dem wunderbarerweise das saftigste Gras wuchs, das Tobbs je gesehen hatte.
    Gleich darauf staunte er noch mehr: Hinter dem Felswall begann eine ganz neue Welt. Schattiges, dunkles Grün und leuchtende Blumenfarben bestimmten hier das Bild. Ranken mit weißen, kelchartigen Blüten wanden sich um schlanke Sternblattbäume. Und mittendrin stand eine flache Hütte, nicht viel mehr als ein Zelt aus einem durchbrochenen Flechtwerk biegsamer Zweige. Furchterregende Masken humorloser Götter schmückten das Blätterdach. Eine Reihe von Pflöcken stellte wohl einen Gartenzaun dar, und tatsächlich staken auch hier Schädel auf den Pfosten – allerdings waren es die flachen, länglichen Köpfe von Barrakuda-Raubfischen.
    »Willkommen in meiner neuen Datscha«, sagte Baba Jaga, als sie das schattige Wohnzimmer betraten.
    Die Hexe war ihrem Stil treu geblieben. Statt eines Drachensessels lud ein mittelgroßer Walschädel zum Sitzen ein und auch die Stühle daneben bestanden aus Knochen, aber ansonsten sah das Innere der Hütte wie die Tajumeer-Version des Hühnerbein-Häuschens aus. Sogar

Weitere Kostenlose Bücher