Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Garagen voller Möbel und Gerätschaften. Jens bekam dort für wenig Geld endlich das, was er gesucht hatte, und verließ mit einer schweren Tasche den Hof.
Als er zu Hause ankam, war Marie nicht da, aber sie musste schon die Post hereingeholt haben. Auf dem Küchentisch lag ein Brief, der einen Stempel der Humboldt-Universität Berlin, Sektion Biologie trug. Jens hatte kein gutes Gefühl, als er den Umschlag öffnete.
Kapitel 7 Die Exmatrikulation
Als Jens eintrat, hatten die Mitglieder der Kommission bereits ihre Plätze eingenommen. Niemand zeigte eine Reaktion auf sein Erscheinen. Der Vorsitzende, Professor Tülsner, und sein Sekretär saßen am Kopfende des langen Tischs. Alle anderen hatten sich links und rechts von ihm aufgereiht. Für Jens war offenbar der einzige leere Stuhl im Raum vorgesehen. Und der stand am entgegengesetzten Tischende. Er nahm darauf Platz.
Für die links und rechts von ihm Sitzenden hatte das den Vorteil, ihn nicht direkt ansehen zu müssen. Seine Anwesenheit schien ihnen peinlich zu sein.
Jens erkannte den Vertreter der Hochschullehrer, Professor Römer. Neben ihm saß der Genosse der Kreisleitung der Freien Deutschen Jugend, daneben die Seminargruppenberaterin Bettina Erdmann. Jens kannte sie als ehrgeizige wissenschaftliche Mitarbeiterin, die am Institut zügig Karriere machen wollte. Wie oft hatte er von ihr gehört, dass die Seminargruppe wie eine zweite Familie sei. Jens und seine Kommilitonen waren wie alle Studenten obligatorisch in solch einer Gruppe organisiert – und wurden auf diese Weise kontrolliert. Es gab keine studentische Angelegenheit, die nicht im Kollektiv besprochen wurde.
Zur Runde gehörte noch der amtierende Sektionsdirektor, Professor Kurze, sowie ein SED -Genosse, der sich als offizieller Protokollant bereits eifrig Notizen in seiner Kladde machte.
Erst dann nahm Jens wahr, dass da noch jemand im Raum war. Jemand, von dem er ahnte, dass er hier wohl zum einzigen Verbündeten werden könnte.
Es war Professor Günter Tembrock, für ihn die einzige wirklich bedeutende Persönlichkeit am Biologischen Institut der Humboldt-Universität. Jetzt stand er vor der Emeritierung, früher hatten seine Vorlesungen beinahe Kultstatus genossen und waren von zwei-, dreihundert Studenten besucht worden. Tembrock lehrte seit Jahrzehnten an der Humboldt-Universität und war als Verhaltensforscher weit über die Landesgrenzen hinaus angesehen. Er war im ganzen Land durch seine Fernsehsendung Rendezvous mit Tieren so bekannt wie Bernhard Grzimek mit seiner Sendung Ein Platz für Tiere im Westen. Manche verglichen ihn mit Konrad Lorenz. Er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die erste verhaltensbiologische Forschungsstätte in Deutschland aufgebaut.
Doch an der Ost-Berliner Uni war er von der Partei seit längerem ins Abseits gedrängt worden. Vielleicht weil er niemals in die Partei eingetreten war? Genaueres war unter den Studenten nicht bekannt.
Derartig unklare Gerüchte über Maßregelungen waren für die Obrigkeit praktisch, dachte Jens. Sie schufen ein Klima unterschwelliger Bedrohung, auf das viele mit permanent vorauseilendem Gehorsam reagierten.
Jedenfalls durfte der auch im Ausland angesehene Wissenschaftler nicht reisen und nahm daher seit Jahren nicht mehr an den internationalen Konferenzen und Tagungen teil, zu denen er ständig eingeladen wurde. Einige der ausländischen Kollegen besuchten ihn stattdessen in Ost-Berlin. Seit einiger Zeit war er nicht mehr Chef des Lehrstuhls. Er konnte seine wissenschaftliche Arbeit nur noch mit wenigen Studenten fortsetzen.
Schon bevor Jens an die Uni kam, war Tembrock zu seinem großen Vorbild geworden. Er hatte als Schüler dessen bekanntes Buch »Grundlagen der Schimpansenpsychologie« verschlungen. Durch die Lektüre hatte Jens begonnen, sich für die Entschlüsselung von Gesichtsausdruck, Körpersprache und Gesten zu interessieren. Tembrocks Erkenntnisse waren ihm noch immer hilfreich, wenn er in wildfremde Gegenden reiste und Menschen traf, deren Sprache er nicht verstand.
Nun saß sein Idol reglos und mit verschränkten Armen da. Jens meinte, ein leichtes, freundliches Nicken wahrzunehmen. Tembrock war der Einzige, der ihn überhaupt ansah.
Die anderen Versammelten schwiegen und schauten erst auf, als endlich der Vorsitzende der Disziplinarkommission das Wort ergriff.
Er warf Jens ohne Umschweife vor, dass seine Leistungen absolut ungenügend seien. Jens habe im zweiten Studienjahr eine völlig unzureichende
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