Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Studiendisziplin gezeigt. Seine Teilnahme an den Lehrveranstaltungen sei marginal . Damit habe er die Zielstellung des Studienjahres nicht erreicht und hätte allein schon nach der Prüfungsordnung exmatrikuliert werden müssen. Hinzu komme ein Verweis des Sektionsdirektors, der wegen seines Verhaltens beim fünfwöchigen MQ , dem Militärischen Qualifizierungs-Lager, ausgesprochen worden sei, weil er nicht zum Reserveoffizier der Nationalen Volksarmee befördert werden wollte. Dem Verweis sei zudem bereits eine Verwarnung wegen wiederholter Verletzung der Studiendisziplin vorausgegangen. Jens habe die Auflage bekommen, pünktlich und ohne Einschränkung an allen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Dennoch habe er wieder mindestens zwanzig Pflichtstunden versäumt.
Welche Folgen Jens’ Verhalten nach sich ziehen würde, sagte der Vorsitzende noch nicht.
Der FDJ -Gruppensekretär räusperte sich, ohne Jens eines Blickes zu würdigen, und setzte die Anklage fort.
Der Student hat fortgesetzt gegen die Studiendisziplin verstoßen, eine unehrliche Arbeitsweise an den Tag gelegt und sich vollständig von der FDJ -Gruppe isoliert.
Die Vorwürfe der FDJ lauteten im Einzelnen:
Erstens. Bei einer dreiwöchigen Kontrolle und Überprüfung seines Verhaltens durch Genossen der FDJ , die wir vom 10. bis zum 27. Juni durchführten, ergab sich, dass der Student zu weniger als 50 Prozent aller Lehrveranstaltungen anwesend war, obendrein verspätete er sich besonders bei Praktika. So erschien er grundsätzlich jeden Freitag beim Biochemie-Praktikum eine Stunde zu spät.
Zweitens: Kennzeichen für seine gesamte Studienhaltung ist eine unehrliche und unkameradschaftliche Arbeitsweise.
Innerhalb der FDJ -Gruppe übernahm er keine gesellschaftlichen Aufträge, seine Einsatzbereitschaft für das Kollektiv lässt sehr zu wünschen übrig. Das wird auch durch seine Mitarbeit im Arbeitskreis Naturschutz nicht kompensiert.
Drittens: Einer Aussprache über sein Verhalten wich Jens bewusst aus, indem er zu einer FDJ -Mitgliederversammlung, in der er zu den berechtigten Klagen des Kollektivs Stellung nehmen sollte, nicht erschien.
Viertens: Wiederholte Aussprachen im Kollektiv mit ihm führten zu keiner Änderung. Selbst nach der letzten Aussprache, in der Jens vom stellvertretenden Direktor zur hundertprozentigen Teilnahme an allen Lehrveranstaltungen verpflichtet wurde, fehlte er wiederum in mindestens zwei Vorlesungen und einem Seminar.
Das Fazit der FDJ -Gruppe lautet: Mit seinem Verhalten hat sich der im ersten Studienjahr noch durchaus beliebte und geachtete Kommilitone den Unwillen der gesamten Seminargruppe zugezogen und sich selbst vollkommen isoliert.
Darum beantragte die Seminargruppe Biologie II /1 ein Disziplinarverfahren auf Universitätsebene gegen den Kommilitonen.
Als ob das alles nicht gereicht hätte, ergriff der amtierende Sektionsdirektor das Wort:
Erschwerend zu den vorgenannten Verstößen gegen die Studiendisziplin kommt noch hinzu, dass gegen den Studenten auch im MQ -Lager erzieherische Maßnahmen ergriffen werden mussten. Er zeigte wenig Lust und persönliche Einsatzbereitschaft für das gesamte Lagerleben. Alle Hinweise und Ermahnungen negierte er. Der Gefreite wurde mit Verweis und einer kollektiven Erziehungsmaßnahme bestraft.
Der Vorsitzende erteilte daraufhin der Kollegin Erdmann das Wort. Die Seminargruppenberaterin wurde grundsätzlicher. Sie erinnerte zunächst daran, dass Jens dank der großzügigen Entscheidung des Arbeiter- und Bauernstaates fast auf den Tag genau vor zwei Jahren sein Studium an der Sektion Biologie, Fachrichtung Verhaltensforschung, aufnehmen durfte. Ein solcher Studienplatz sei keine Privatsache , sondern als ein gesellschaftlicher Auftrag zu verstehen. Bei erfolgreichem Abschluss bedeute das Studium in jedem Fall eine Arbeitsplatzgarantie.
Dann las sie ungelenke Formulierungen vom Blatt ab.
Die Seminargruppe, zu der er gehört, entwickelte sich nur langsam zu einem Kollektiv, jedoch entschuldigt dies in keinster Weise die Arbeits- und Verhaltensweisen, die er vor allem im zweiten Studienjahr an den Tag legte.
Kollegin Erdmann schaute von ihrem Zettel hoch, sah Jens kurz direkt ins Gesicht und fuhr mit monotoner Stimme fort:
Das Kollektiv schätzt ein, dass er im ersten Studienjahr noch durchaus hilfsbereit und geachtet war, während sich im Folgenden mehr und mehr ein individueller Arbeitsstil herausbildete, der nur noch als parasitär zu bezeichnen ist. Denn dieser Herr
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